Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die letzte große Schlacht in Syrien beginnt
Großangriff auf Idlib wird in den kommenden Wochen erwartet – Appell der UN an die Türkei
ISTANBUL - Spätestens seit vor einigen Tagen Tausende Flugblätter aus Hubschraubern auf sie herab flatterten, wissen die Menschen in der nordwest-syrischen Provinz Idlib, was ihnen blüht. „Der Krieg neigt sich seinem Ende zu“, stand auf den Zetteln, wie Aktivisten berichten. Die Zeit der Versöhnung sei gekommen, hieß es weiter – gemeint war das Gegenteil: Die syrische Regierung ließ die Bewohner von Idlib mit den Flugblättern wissen, dass eine Großoffensive der Armee mit russischer und iranischer Hilfe bevorsteht. In Syrien beginnt die letzte große Schlacht.
Mehr als sieben Jahre nach Ausbruch der Proteste gegen die Herrschaft von Präsident Baschar al-Assad 2011 steht die Regierung in Damaskus vor dem militärischen Sieg über die Rebellen. Idlib ist die einzige Region Syriens, die noch von den Rebellen kontrolliert wird. Im Westen hat Assad überall die Oberhand, der Osten von Syrien wird von den mit den USA verbündeten Kurden beherrscht, die wohl kein Angriffsziel für Assad bilden werden: Vertreter der Kurden verhandeln mit der Regierung über eine Autonomieregelung für ihre Volksgruppe. In Idlib haben sich mehrere Millionen Zivilisten sowie Zehntausende Kämpfer nach Niederlagen der Assad-Gegner in anderen Landesteilen in Sicherheit gebracht. Beherrschende Kraft in Idlib ist die radikal-islamische Miliz HTS, die Al Kaida nahesteht.
Fast 70 Menschen getötet
Wie bei den anderen Regierungsoffensiven der jüngsten Zeit begann die Vorbereitung auf die Schlacht von Idlib mit Luftangriffen und Artilleriebeschuss. Bei der Explosion eines Waffenlagers von Aufständischen in Syrien sind in Sarmada 69 Menschen, darunter 17 Kinder und 14 Frauen, getötet worden. Doch der Großangriff, der in den kommenden Wochen erwartet wird, dürfte sich schwieriger gestalten als andere Offensiven. Die Türkei hat in Idlib zwölf Beobachtungsposten aufgebaut und rund tausend Soldaten stationiert. Pro-türkische Milizen und ein Teil der Bevölkerung hoffen, dass Ankaras Truppen sie gegen Assad, die Russen und die Iraner beschützen werden. Noch ein anderer wichtiger Faktor ist anders in Idlib: Bisher konnten zivile AssadGegner und Rebellenkämpfer stets nach Idlib ausweichen – jetzt gibt es keine Fluchtmöglichkeit in Syrien mehr. Zudem hat die Türkei ihre Grenze geschlossen. Die Vereinten Nationen rufen Ankara auf, die Flüchtlinge trotzdem ins Land zu lassen.
Die türkische Regierung hat jedoch offenbar andere Pläne. Präsident Recep Tayyip Erdogan deutete an, dass türkische Truppen weitere Gebiete in Syrien unter ihre Kontrolle bringen könnten, um Flüchtlingen eine Zuflucht zu bieten. Seit 2016 hat Ankara dies bereits in zwei anderen Gegenden Nordsyriens vorexerziert: in Afrin, einer Nachbargegend von Idlib, und im weiter östlich gelegenen Jarablus. Dort sind nach türkischen Regierungsangaben inzwischen mehrere Hunderttausend Syrer angesiedelt worden, die vor dem Krieg in die Türkei geflohen waren.
Neue türkische Vorstöße in Syrien dürften allerdings bei Russland auf heftige Kritik stoßen. Ankara ist laut Regierungsangaben mit Moskau im Gespräch, um eine Lösung für Idlib zu finden. Medienberichten zufolge versucht die Türkei bisher vergeblich, die Extremistentruppe HTS aufzulösen, um den Großangriff auf Idlib doch noch zu verhindern oder zumindest mehr Zeit zu gewinnen. Russland soll den Türken eine Frist bis September eingeräumt haben – dass Ankara bis dahin die Islamisten zur Aufgabe überreden kann, ist aber unwahrscheinlich: Alle Zeichen deuten auf noch mehr Gewalt in Syrien.