Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Metropole mit zwei Gesichtern
In Chicago herrschen auch in Trumpschen Zeiten Toleranz und Offenheit, allerdings auch Mord und Totschlag
Mein Name ist Page und ich bin heute Abend Ihre Kellnerin. Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt in unserem Restaurant.“Mit dieser Begrüßung beginnt das erste Abendessen in Chicago. Willkommen im Land der persönlichen Begrüßung, willkommen in einer Stadt der Herzlichkeit. Was die drittgrößte US-amerikanische Metropole mit ihren 2,7 Millionen Einwohnern auszeichnet, sind ihre Freundlichkeit, Offenheit und Toleranz. Es ist die Stadt, die sich gegen US-Präsident Donald Trump und seinen amerikanischen Exzeptionalismus stellt. Allerdings auch die amerikanische Stadt mit den meisten Verbrechen und der höchsten Mordrate.
Zehn Prozent Deutsche
In Chicago leben seit jeher Einwanderer. Auch Hunderttausende Deutsche. Um 1900 war rund ein Drittel der Bevölkerung deutsch, heute sollen es noch um die zehn Prozent sein. Nicole Outrequin Quaisser ist eine davon. Sie hat es geschafft. Die gelernte Hotelfachfrau aus Hamburg lebt in Chicago ihren American Dream. Gemeinsam mit ihrem französischen Ehemann betreibt sie unter dem Namen „LM Restaurant Group“sieben individuell gestaltete Restaurants. Eines davon liegt direkt gegenüber dem imposanten – und bei den liberalen Chicagoern verachteten – Trump Tower mit seinen 98 Stockwerken. Zu der Unternehmensgruppe von Outrequin Quaisser gehört zudem eine Cateringfirma. Bei Hochzeiten, Firmenfesten oder Weihnachtsfeiern sorgt die gebürtige Deutsche für das passende Büfett. Sogar für eine Feier des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, der bekanntlich aus Chicago kommt, ist sie schon gebucht worden. Und was wäre, wenn Donald Trump anfragt? „Das würde ich niemals machen“, lehnt Nicole Outrequin Quaisser vehement ab.
Die Deutsche mit dem amerikanischen Pass sagt, sie habe sich nie als Immigrantin gefühlt. „Doch vor einem Jahr hat sich die Lage verändert“, beschreibt sie. Seitdem sei die Atmosphäre eine andere, so die Geschäftsfrau – und das gelte nicht nur für sie selbst, sondern vor allem für ihre Mitarbeiter, von denen ein Großteil aus Lateinamerika stammt. Die meisten ihrer Angestellten, die sie eigenen Aussagen zufolge ordentlich beschäftigt und mit einer Krankenversicherung ausstattet, würden mit Angst und in Unsicherheit leben, meint Qutrequin Quaisser. „Aus Sorge vor einer Deportation gehen viele Latinos zurück“, erzählt sie. Damit verliere sie gute und vertrauensvolle Mitarbeiter, die eine Lücke hinterlassen. „Das schmerzt“, sagt Outrequin Quaisser.
Wenn jemand die Bedeutung der unterschiedlichen Kulturen für die Menschheitsgeschichte kennt, dann Thorsten Lumbsch. Seit 15 Jahren arbeitet der Frankfurter als Kurator am Chicagoer Field Museum of Natural History – eines der größten und beeindruckendsten Museen der Welt. Gerade die Internationalität findet der Wissenschaftler an seiner Wahlheimat so anziehend. Er hat die Erfahrung gemacht: „In Chicago sind die Menschen offen, positiv und gelassen – auch bei der Arbeit.“Typisch deutsche Eigenschaften, wie Lumbsch sagt, habe er sich abgewöhnt – dazu zählt er Ungeduld, Gemecker oder die Unart, immer alles bewerten zu müssen.
Doch nicht nur hinsichtlich der Einstellung ihrer Bürger ist Chicago eine vielfältige und moderne Metropole. Auch in der Architektur spiegelt sich die Abwechslung wider – und die ist genau genommen aus einer Katastrophe heraus entstanden. Denn im Jahr 1871 kam es in Chicago zu einem Großbrand, der fast die ganze Stadt zerstörte. In den Jahren danach entstanden außergewöhnliche architektonische Gebäude, die Chicago heute seinen Charme verleihen. Da sind zum Beispiel: das Wrigley Building, das 1922 als Hauptquartier des Kaugummi-Imperiums nach dem Vorbild der Kathedrale von Sevilla errichtet wurde, der Chicago Tribune Tower, in dessen Außenmauer Steine berühmter Gebäude – wie des Kolosseums in Rom oder der Großen Mauer in China – eingelassen sind, der gigantische Willis Tower, einst das höchste Gebäude der Welt, oder eben der umstrittene Trump Tower, in dem sich neben einem Hotel auch Privatwohnungen befinden. Bei einem geführten Bootsausflug auf dem Chicago River können Besucher von der Wasserseite aus einen Blick auf die Wolkenkratzer erhaschen und werden dabei von einem Guide mit allerlei wissenswerten Informationen versorgt.
Maritimes Flair
Aber wer jetzt denkt, Chicago hat außer einem Wolkenkratzerdschungel nicht mehr zu bieten, der irrt. Denn es ist eine der lebenswertesten und umweltbewusstesten Städte der USA. Gelegen am Lake Michigan hat Chicago fast schon maritimes Flair. Und grün ist es hier, dank zahlreicher Parks und Grünanlagen, dank Dachgärten und gepflegter Beete am Straßenrand. Die Einwohner Chicagos fühlen sich der ökologischen Idee verpflichtet – und verhalten, bewegen und ernähren sich entsprechend.
Einer, der diesen Zeitgeist hautnah mitbekommt, ist Hans Mooser. Von der fränkischen Stadt Hof hat es ihn nach Chicago verschlagen. Seit 20 Jahren lebt er nun schon hier. Als Koch leitet er gemeinsam mit Kollegen eine Kochschule und gibt Kochkurse. Mooser stellt fest: „Das gesunde Kochen mit hochwertigen Zutaten wird immer beliebter.“Auf die Ernährung werde mehr Wert gelegt als früher, so der Experte. Seiner Meinung nach liegt das nicht zuletzt am Gesundheitssystem der USA. „Viele denken: Mit einer gesunden Lebensweise erübrigt sich die Krankenversicherung“, erklärt Mooser. Interessant: Selbst die Fast-FoodKetten verleihen sich in Chicago einen grünen Anstrich. So wurde hier jetzt der weltgrößte Mc Donald’s gebaut – angeblich ein Öko- und BioMc-Donald’s.
Der Ort, an dem sich in Chicago Menschen jeder Couleur treffen, ist der riesige Michigan Park mit seiner öffentlichen Skulptur „Cloud Gate“– besser bekannt als „The Bean“. Es ist ein Hotspot und das Wahrzeichen, das Chicago wohl am besten charakterisiert. Das Kunstwerk wurde aus 168 Edelstahlplatten zusammengeschweißt und auf Hochglanz poliert. Nähte sind nicht zu sehen. Die verspiegelte Oberfläche reflektiert die Skyline von Chicago und ist ein beliebtes Fotomotiv. Es gibt wohl kaum einen Touristen, der vor der elliptischen „The Bean“kein verzerrtes Selfie schießt. Und aus jeder Perspektive, aus der man die Skulptur betrachtet, ergibt sich ein neues Bild der Stadt.
Weitere Informationen unter Die Recherche wurde unterstützt von Choose Chicago.
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