Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Romantische Wildnis mitten in London
Hampstead Heath besitzt Dorfcharakter und Naturpools – Hier tummeln sich auch gerne Gespenster
LONDON (dpa) - Hoch über London gibt es noch ein Stück Natur, das nicht von der Millionenstadt verschlungen worden ist. Auf Hampstead Heath kann man in kniehohem Gras sitzen, eine fantastische Aussicht genießen – und angeblich sogar Gespenstern begegnen.
In Hampstead hat man das Beste zweier Welten: Man ist nur vier UBahn-Stationen von Piccadilly Circus entfernt und fühlt sich doch wie auf dem Land. Das liegt am VillageCharakter, an den verträumten Häusern und verwinkelten Gassen und am Heath, dem Wald- und Wiesengebiet auf einer Anhöhe über der Stadt.
Gepflegte Wildnis
Der höchste Punkt heißt Parliament Hill. Darunter erstreckt sich die gesamte Innenstadt, von Big Ben im Westen bis zu den Hochhäusern von Canary Wharf im Osten. London scheint zum Greifen nah, und doch so unwirklich wie eine Fata Morgana – man selbst steht in kniehohem Gras. Der Heath wirkt wie eine Wildnis, die wegen eines glücklichen Zufalls mitten in der Millionenmetropole überlebt hat. Man wäre keineswegs erstaunt, wenn plötzlich ein Hirsch hinter einem Baum hervorschauen würde. Doch den zahlreichen Wanderführern und Fotobänden über Hampstead Heath lässt sich entnehmen, dass das Stück vermeintlich unberührter Natur kaum weniger gehegt und gepflegt wird als die Parks in der Innenstadt.
Egal zu welcher Jahreszeit – der Heath hat immer seinen Reiz. Bei einem Spaziergang über den verschneiten Heath soll dem Schriftsteller C.S. Lewis die Idee zu seiner Fantasiewelt Narnia gekommen sein, in der die Weiße Hexe einen 100 Jahre währenden Winter heraufbeschworen hat. Am ersten schönen Wochenende im Frühjahr strömt halb London auf den Heath, um einmal tief durchzuatmen und sich davon zu überzeugen: Spring is in the air. Friedrich Engels, der mit seinem Freund Karl Marx mehrmals in der Woche auf den Heath wanderte, schrieb begeistert, sie würden bei diesen Gelegenheiten „mehr Ozon als ganz Hannover“einatmen.
Die große Attraktion des Sommers sind die drei Naturschwimmbäder, die ursprünglich als Trinkwasserreservoirs angelegt wurden. Es gibt einen Teich für Männer, einen für Frauen und einen „mixed bathing pond“. Das Wasser ist kühl, und manchmal stößt man an Seerosen. Ein zusätzliches Spannungselement ergibt sich daraus, dass man das Wasser mit Hechten teilt. Die vierfache Oscar-Preisträgerin Katharine Hepburn ließ sich nicht davon abhalten, immer mindestens einmal im „Ladies’ Pond“schwimmen zu gehen, wenn sie in London weilte.
Samstagabends gibt es auf Hampstead Heath Sommerkonzerte vor dem Landsitz Kenwood House, bekannt aus dem Hugh-Grant-Film „Notting Hill“. Wer eine Karte gekauft hat, macht es sich im Liegestuhl bequem – wer keine Karte hat, auf einer Picknickdecke. Es ist gute Tradition, während des Konzerts große Mengen Roastbeef und Chips zu vertilgen und dabei Champagnerflaschen zu leeren. Falls es mal regnet: Kenwood House beherbergt eine exquisite Gemäldegalerie mit Werken von Rembrandt, Frans Hals und Vermeer. Der Eintritt ist frei.
Die schönste Jahreszeit ist aber der Herbst. Dann lassen die Londoner auf Parliament Hill ihre Drachen steigen. Die bunten Vögel stehen am Himmel, darunter funkeln im weichen Licht der Nachmittagssonne die Dächer des gegenüberliegenden Stadtviertels Highgate. Nach Süden hin hat man den Ausblick auf die Stadt mit ihren immer schneller wachsenden Hochhäusern.
Geister in der Dämmerung
Zum Aufwärmen suche man das Parliament Hill Café auf. Auf den ersten Blick wirkt es spröde, aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. Hier gibt es noch einen guten englischen Tee mit Milch für ein Pfund. Seit über 30 Jahren wird die Lokalität von einer italienischstämmigen Familie geführt. Als die Behörden ihr die Lizenz entziehen und diese einer Kette übertragen wollten, unterschrieben 24 000 Sympathisanten eine Petition – und retteten das Café. Wenn man nach einigem Warten einen Platz ergattert hat, kann es leicht passieren, dass man sich erst am späten Nachmittag wieder zum Gehen aufraffen kann. Nun sind die Schatten der alten Eichen schon lang. Eine englische Freundin hat einmal gesagt, sie gehe in der Dämmerung grundsätzlich nicht über den Heath. Auf die erschrockene Nachfrage, ob es dort etwa Überfälle gegeben habe, schaute sie verwundert und sagte: „Nein. Ich meine natürlich die Geister.“
Der Heath soll tatsächlich ein Lieblingsort der umtriebigen Londoner Gespenstergesellschaft sein. Unter den ruhelosen Seelen befinden sich ein Phantompferd, eine Weiße Frau und ein Räuberhauptmann namens Black Dick. Sein Geist soll noch bis heute den Pub „The Spaniards Inn“von 1585 heimsuchen, der am Rande des Heath liegt und seiner guten Küche wegen empfohlen wird. Übrigens spielt auch ein Teil des „Dracula“-Romans von Bram Stoker auf Hampstead Heath. Doch die einzigen Verstorbenen, deren Anwesenheit tatsächlich vermerkt ist, sind jene, deren Namen auf den Parkbänken verewigt sind. Praktischerweise gibt es auf Hampstead Heath sehr viele Bänke, und die meisten von ihnen erinnern an verblichene Freunde dieses schönen Fleckchens Erde: „In loving memory of …“