Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Piloten klagen über Gesundheitsprobleme
Fast 1000 Unfälle durch verunreinigte Kabinenluft an Bord von Flugzeugen im Jahr 2017 gemeldet
BERLIN - Chemische Gerüche, Schwindelanfälle im Cockpit: Fast 1000 Unfälle wurden im vergangenen Jahr wegen möglicherweise kontaminierter Kabinenluft gemeldet. Manche Crewmitglieder sind nach solchen „Fume Events“heute nervenkrank.
Die Nacht, in der sein Traumberuf zum Alptraum wurde, wird Flugkapitän Michael Kramer, 52, aus dem mittelfränkischen Falkendorf nie vergessen. Am 2. September 2015, kurz nach dem Start von London nach Leipzig, verbreitete sich ein Ölgeruch im Cockpit. Kramer wurde schwindelig, bekam Kopfschmerzen, der Co-Pilot klagte über ein Druckgefühl auf der Brust. Sie schalteten mehrfach die Luftaufbereitungsanlage an und aus, doch es nützte nichts. In ihrer Verzweiflung griffen sie zu den Sauerstoffmasken, landeten in der Automatik. Nicht alle Flugzeuge haben diese Funktion, die auch nur dann möglich ist, wenn Wetter und Landebahn das zulassen. „Es hätte zu einer Katastrophe kommen können“, sagt Kramer heute.
Verdacht auf toxische Stoffe
Später entdeckte sein Co-Pilot, dass die Schalter mit einem sehr feinen Ölfilm überzogen waren. Sie hatten ein „Fume Event“erlebt, einen Zwischenfall mit kontaminierter Kabinenluft. Laut der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung gab es im vergangenen Jahr 196 solcher Geruchsoder Rauchereignisse, davon 66, die möglicherweise toxisch waren, weil der Verdacht bestand, dass Ölgeruch, Öldampf, Enteisungs- oder Hydraulikflüssigkeit die Ursache war. Das geht aus einer Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion hervor, die der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt. Auch bei der Berufsgenossenschaft Verkehr häufen sich die Unfallanzeigen: 2015 waren es 450 „Fume-Event“-Meldungen, 2016 schon 830 und 2017 920. Eine Verdoppelung also binnen zwei Jahren.
Laut dem Flugportal „Aviation Herald“kam es zuletzt am 3. Oktober auf einer Boeing 737 von Bukarest nach Amsterdam zu einem solchen Zwischenfall. Die Crew hatte ein Ölleck gemeldet und musste wieder umkehren, berichtete ein Fluggast. „Fume Events“können auftreten, wenn es plötzlich zu Fehlern an den Dichtungen in den Triebwerken kommt. Denn dort, nahe des Triebwerks, werde seit den 1950er-Jahren die Atemluft in der Kabine als sogenannte Zapfluft entnommen, erklärt Dieter Scholz, Professor für Flugzeugbau an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Das Problem: Die Dichtungen weisen oft einen Spalt auf, durch den zwar extra Luft hineingeblasen wird, aber trotzdem Öl austritt. „Es kommt also konstruktionsbedingt regelmäßig zu kleinen Leckagen von Öl im Triebwerksverdichter.“Mit Ausnahme des Boeing-787-Dreamliners laufen fast alle modernen Passagierflugzeuge mit diesem Zapfluft-System – ein Risiko auch für Reisende. Die Vereinigung Cockpit schätzt, dass auf jedem 2000. Flug ein „Fume Event“auftritt.
Die Lufthansa verweist auf eine Studie der EU-Flugsicherheitsagentur EASA zur Kabinenluftqualität 2017, wonach es „aktuell keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen der Kabinenluft und gesundheitlichen Problemen gibt“, sagt Sprecherin Anja Lindenstein. Die Luftqualität auf den Messflügen sei mit denen in Klassenzimmern oder Büros vergleichbar.
Die EASA fand in ihrer Studie aber auch Spuren von Organophosphaten und flüchtigen organischen Verbindungen. Letztere ließen sich am Unfalltag im Blut von Michael Kramer nachweisen: Butanon, Isopropanol, Isohexan und Toluol. Stoffe, die sonst „in Kerosin, Ölen und Hydraulikflüssigkeiten“vorkommen und „zu denen neurotoxische Effekte wissenschaftlich belegt sind“, schrieb die Arbeitsmedizinerin Astrid Heutelbeck von der Universität Göttingen. Kramer ist heute fluguntauglich, hat starke Nervenschmerzen und Gleichgewichtsstörungen. „Ein kausaler Zusammenhang“zwischen Kramers Leiden und dem beruflichen Unfall sei „ohne jeden vernünftigen Zweifel anzunehmen“, so Heutelbeck. Die heutige Professorin am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Jena hat Blut und Urin von rund 350 betroffenen Flugbegleitern, Piloten und Passagieren untersucht – und in zahlreichen Proben solche luftfahrttypischen Komponenten gefunden.
Der stark wachsende Trend, solche Unfälle zu melden, geht seit Neuestem jedoch wieder zurück. Nach den knapp 1000 Anzeigen im vergangenen Jahr waren es im ersten Halbjahr 2018 nach Angaben der Berufsgenossenschaft Verkehr nur noch 250 Anzeigen. Eine Erklärung hat die Versicherung nicht: Überlegungen dazu seien „rein spekulativ“, so eine Sprecherin.
Ministerium wartet erstmal ab
Der Gesundheitsbeauftragte der Vereinigung Cockpit, Jörg Handwerg, hält es indes für „denkbar, dass die BG bei ihren Angaben die Kriterien geändert hat“. Das glaubt der Pilot Michael Kramer, der mit anderen Betroffenen die Patienteninitiative Contaminated Cabin Air e. V. gegründet hat, auch. „Uns liegen Erlebnisberichte von betroffenen Besatzungsmitgliedern vor, denen Stoffnachweisprüfungen verwehrt wurden, wenn das ,Fume Event’ länger als acht Stunden zurückliegt“, sagt Kramer. Damit fielen etwa zahlreiche Crews von Langstreckenflügen aus dem Schema, bei denen sich das „Fume Event“zur Zeit des Abflugs ereignete.
Das Bundesverkehrsministerium sieht im Moment keinen Anlass zu handeln. „Die konkreten Stoffe, die die Kabinenluft möglicherweise verunreinigen, sind bisher nicht ausreichend identifiziert und bekannt“, heißt es in der Antwort auf die Grünen-Anfrage. Erst wenn diese „vollständig identifiziert“seien, sei eine Filterentwicklung möglich und zielführend. Tatsächlich scheint die Industrie das Gefahrenpotenzial längst zu erahnen – und beginnt sich hinter den Kulissen zu wappnen. „Alle unsere Fluggesellschaften testen derzeit unterschiedliche Filtersysteme in ihren Flugzeugen“, heißt es vom Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft.