Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Der Bodensee schrumpft
Durch den außergewöhnlichen Niedrigstand offenbart der Bodensee Dinge, die sonst im Wasser verborgen bleiben
Der Pegelstand am Bodensee sinkt weiter. Immer mehr Sand oder Kies kommt, wie hier in Wasserburg (Foto: Samy Kramer), zum Vorschein. In Friedrichshafen ist sogar die alte Hafenanlage wieder sichtbar. Doch während am See keine dramatischen Folgen für die Wirtschaft zu verzeichnen sind, haben die Binnenschiffer auf dem Rhein mit massiven Problemen zu kämpfen. Wegen des Niedrigwassers können die Frachter nicht so schwer beladen werden wie zuvor.
Gerade packt Roland sein ganzes Angelzeug zusammen, befestigt Ruten, Köderbox und den anderen Krimskrams an seinem alten Fahrrad. Das klapprige Gefährt sieht so aus, als würde es auch dann niemand klauen wollen, wenn es das Letzte auf der Welt verbliebene wäre. Der groß gewachsene Mann – hager, vom Wetter gegerbtes Gesicht, grüner Overall – steht direkt dort auf dem rechten Damm, wo der Rhein bei den österreichischen Gemeinden Hard und Fußach in den Bodensee mündet. Roland hebt den Kopf und deutet mit dem Kinn auf einen rund 200 Meter breiten Streifen Land vor der Mündung, der da nicht hingehört. „Das suchen Sie doch, oder?“
Unsichtbar im Normalzustand
Diese Insel, die der 72-jährige Angler meint und die schon seit einigen Wochen sichtbar sei, hat Roland schon sehr lange nicht gesehen. Und weil der Mann alle paar Tage von morgens bis abends hier seine Angelruten ins Wasser hängt, nimmt er jede Veränderung wahr. „Vor 15 Jahren habe ich diese Insel zum letzten Mal gesehen. Im Winter.“Im Sommer oder Herbst noch nie. Denn normalerweise kommen niedrige Wasserstände eigentlich nur in der kalten Jahreszeit vor. Eigentlich. „Wie das wird, wenn es bald wirklich Winter ist, das können Sie sich vorstellen“, sagt Roland, steigt auf sein Fahrrad und macht sich auf den Weg zurück zum Festland. Eine niedrig stehende Abendsonne und der aufkommende Dunst hüllen ihn in ein feierliches Licht. Dann ruft er: „Schauen Sie sich mal den Rohrspitz an. Da müssen Sie das Wasser suchen und können 300 Meter mit trockenen Füßen in den See laufen.“
Die neue Insel vor der Rheinmündung ist durch den derzeit anhaltenden Niedrigwasserstand des Bodensees, der am Pegel Konstanz am Freitag um die Mittagszeit 2,68 Meter erreichte, sichtbar geworden. Der Pegel nähert sich damit dem Mittelwert der niedrigsten jährlichen Wasserstände von 2,60 Meter weiter an. So schnell verschwinden wird die Insel auch nicht: „Aber sie wäre bei normalen Wasserständen nicht sichtbar“, sagt Mathias Speckle von der Geschäftsstelle der „Internationalen Rheinregulierung“im schweizerischen St. Margrethen. Nur käme sie eben im Normalfall unterhalb der Wasseroberfläche zu liegen. „Das bleibt ein spannendes Thema“, sagt Speckle.
Rhein spült Sedimente in den See
Der Hintergrund ist ein seit Jahrzehnten bekannter Erfahrungswert: Der Rheinzufluss „bringt stetig Material in den Bodensee“, erläutert Speckle. Schwebstoffe und Sedimente würden im See abgelagert, was auch stets die Gefahr einer Verlandung von Uferzonen mit sich bringe, sagt er, der die Rheinbauleitung für die österreichische Seite verantwortet. Man könne das Phänomen auch bei der benachbarten Bregenzer Ach sehr gut beobachten. Der Fluß, der im westlich gelegenen Bregenzerwald entspringt, verändere immer wieder seine Strukturen. Auch die jetzt im Bodensee gebildete Sandinsel an der Mündung des Alpenrheins „bleibe nicht statisch“. Diese könne sich innerhalb weniger Monate verlagern, vergrößern oder verkleinern, sagt er. Ein Grund, warum die Insel überhaupt sichtbar geworden ist, sei das fehlende und sonst übliche Frühjahrshochwasser. Sodass die Dynamik gefehlt habe, Ablagerungen in tiefere Bereiche des Sees zu tragen.
Auf einer Fahrt in Richtung Westen, entlang des Bodenseeufers, werden die Auswirkungen des Niedrigwassers in der kleinen Schweizer Stadt Arbon besonders deutlich. Dort hat sich der See von den gemauerten Uferbefestigungen deutlich zurückgezogen. In der Luft liegt ein leicht fauliger Geruch. Ein wenig erinnert das vom Wasser zurückgelassene Land ans Wattenmeer – mit dem kleinen Unterschied, dass es so schnell nicht wieder zurückkehren wird. Denn ob der Regen, der für Dienstag angesagt ist, dafür ausreicht, die Uferbereiche wieder zu füllen, ist eher unwahrscheinlich. Gerade weil die Wetterstationen auch für die zehn Tage darauf eher mit wenig bis gar keinen Niederschlägen rechnen.
An der Schiffstankstelle im Arboner Hafen macht ein Pensionär gerade sein Boot fest. Ob er bald Probleme wegen des Wasserstands bekommt? „Nein, im Moment geht’s noch.“Sein Schiff habe einen Tiefgang von 1,30 Meter bei einem Pegelstand von gut 2,60. Das sei noch nicht so kritisch. Schwierig werde es, wenn der Wasserstand unterhalb 2,30 Meter falle. Davon ist Arbon noch ein Stück entfernt – wenn auch nicht viel. Im östlichen Teil der Hafenanlage haben vertäute Boote bereits Kontakt mit dem Grund. Das Wasser leckt hier stellenweise nur noch zaghaft am Heck. Dramatisch sei die Sache trotzdem nicht, sagt Hafenmeister Hans Schuhwerk. „Probleme gibt es sowieso nicht – nur Lösungen“, meint der vergnügte Eidgenosse. Zwar würden 80 Prozent der Besitzer ihre Boote den Winter über an Land einlagern. „Aber je nach Bauart können Schiffe auch im Wasser bleiben“, sagt Schuhwerk.
Schräg gegenüber des Schweizer Ufers, in der Gemeinde Wasserburg, scheint jemand den Stöpsel gezogen zu haben, sodass die Halbinsel wie trockengelegt wirkt. Rundherum sind breite Strände entstanden, an denen sich am Freitag sogar noch vereinzelt herbstliche Badegäste im goldenen Licht sonnen. So jedenfalls erzählen es am Samstag Spaziergänger, die sich allesamt an das Bild einer fast komplett auf dem Trockenen liegenden Halbinsel Wasserburg erinnern können. Warum das Niedrigwasser gerade in der bayerischen Bodenseegemeinde so gut sichtbar ist, weiß Berufsfischer Roland Stohr: „Seit Jahren steht eigentlich die Sanierung der Halbinsel an.“Deshalb habe man auf das Ausbaggern immer wieder verzichtet, um es zu Beginn der Baumaßnahme nicht noch einmal machen zu müssen. „Jetzt kommen gleich zwei Dinge zusammen: Von unten steigt die Menge an Ablagerungen, die der Rhein heranspült. Zum anderen ist der Wasserstand sehr niedrig.“
Vielleicht eine Seegfrörne?
Für die Fischer ist dieser Zustand übrigens eher günstig als kritisch: „Wir tun uns leichter, sie zu fangen, weil sie jetzt komprimiert stehen.“Allerdings gilt das mit dem erleichterten Fischfang auch für Kormorane, die jetzt an sehr wenig wasserführenden Zuflüssen des Bodensees jede Menge Bachforellen bequem schnappen könnten. Ab einem Pegelstand von unter 2,50 Metern wird die Situation dann auch für die Berufsfischer zunehmend schwierig. „Dem kommenden Winter sehen wir mit Spannung entgegen, wie weit der Pegel dann fällt“, sagt Stohr. Denn je niedriger, umso schneller gefriert das Wasser, umso schlechter für den Fischfang. Dafür vielleicht eine Chance für eine neue historischen Seegfrörne? Da winkt nicht nur der Fischer Roland Stohr ab. Denn neben einem niedrigen Wasserstand braucht es schon noch ein bisschen mehr, damit der Bodensee großflächig zufriert. Zum Beispiel einen tendenziell kühleren Sommer und vor allem einen kalten Oktober und November. Doch davon ist keine Spur. „Das Wasser ist abgesehen davon auch viel zu warm“, sagt Stohr und legt sich fest: „Da bin ich mir sehr, sehr sicher, dass wir auch in diesem Winter keine Seegfrörne erleben.“
Und dass man – trotz Trockenheit und Niedrigwasser – irgendwann allein mit Gummistiefeln von der neuen Insel an der Rheinmündung zur alten Insel Lindau wird spazieren können, ist sowieso ausgeschlossen. Denn noch immer hat der Bodensee eine maximale Tiefe von mehr als 250 Meter. Da muss noch sehr lange sehr wenig Wasser den Rhein runterfließen, damit der niedrige Wasserstand zum existenziellen Problem wird.