Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Forschung gegen Tierversuche
Land prämiert Wissenschaftler, die Alternativen entwickeln – Tierschützer unzufrieden
STUTTGART - An 481 000 lebenden und toten Tieren führten Wissenschaftler 2016 in Baden-Württemberg Experimente durch – so viele wie sonst nirgendwo in Deutschland. Tierschützer halten das für einen Skandal. Die Landesregierung will die Zahl der Experimente ebenfalls verringern. Dazu fördert sie unter anderem Forscher, die Methoden entwickeln, um Versuche an Tieren zu vermeiden.
Einen Scheck über 25 000 Euro bekommt Niklas Schwarz vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen am Donnerstag von Agrarminister Peter Hauk (CDU) überreicht. Er wird mit dem Preis „Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch“ausgezeichnet. Das Land vergibt die Auszeichnung seit 2007.
Hirnzellen statt Kalbsblut
Schwarz hat mit seinen Kollegen eine Möglichkeit gefunden, menschliche Hirnzellen länger als 24 Stunden am Leben zu halten. Kleine Teile des Hirngewebes müssen bei Operationen oft entfernt werden, etwa, um zu einem Tumor zu gelangen. Solches Gewebe dürfen Labore nutzen, um daran zu forschen.
Bislang überlebten die Zellen jedoch nicht lange, alle herkömmlichen Nährmedien für das Gewebe versagten. Dann kam den Forschern die Idee, Hirnnervenwasser zu nutzen. Es wird von Patienten gewonnen, denen es aus gesundheitlichen Gründen entnommen werden muss. Im Hirnwasser überleben die Zellen nun mehrere Wochen. „Damit benötigen Forscher künftig weniger Nährmedien, in denen viele tierische Stoffe enthalten sind“, sagt Schwarz. Unter anderem wird für solche Substanzen das Blut ungeborener Kälber benötigt. Es wird den Tieren im Mutterleib aus dem Herzen entnommen. Tierschützer halten die Methode für schmerzhaft und verzichtbar.
„Baden-Württemberg ist ein wichtiger Standort der biomedizinischen Forschung. Deshalb stehen wir auch zu unserer Verantwortung, Alternativen zum Tierversuch zu entwickeln“, sagt Hauk. So hat das Land in Konstanz den bundesweit ersten Lehrstuhl eingerichtet, der dazu forscht. Zwischen 2013 und 2017 gab das Land rund 1,7 Millionen Euro an Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigen.
In manchen Bereichen gibt es nach Hauks Ansicht jedoch keine Alternativen. So wird ein Fünftel aller Tierversuche deutschlandweit durchgeführt, weil Gesetze es vorschrieben – etwa bei der Zulassung von Medikamenten. Hier sehen Forscher keine andere Möglichkeit, um Folgen auf den Menschen abzuschätzen.
Wissenschaftler führen unter anderem an, man müsse die Zahl der Experimente ins Verhältnis setzen. Von allen Tieren, die jährlich in Deutschland getötet werden, entfallen nur 0,5 Prozent auf Tierversuche – der Rest auf Schlachtungen für die Fleischproduktion. Ohne Experimente sei medizinische Grundlagenforschung nicht möglich. Vieles lasse sich nur an Tieren erforschen und bringe Nutzen für den Menschen: Therapien gegen Krebs, Infektionen, Aids. Ganz ohne Tierversuche werde es nicht gehen, betont Hennes Koch, Leiter der prämierten Tübinger Studie. „Wir erforschen zum Beispiel die Epilepsie.
Um solche Anfälle bei Menschen besser zu verstehen, müssen wir sie bei Tieren auslösen und beobachten.“Ohne Tierversuche sei der große medizinische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte nicht möglich gewesen. „Wenn wir etwa bei der Zulassung von Arzneien ganz auf Tierversuche verzichten, drohen uns Skandale wie der um das Mittel Contergan“, warnt Koch. Der Wirkstoff in dem Beruhigungsmittel war für Schwangere schädlich, Tausende Kinder kamen mit Fehlbildungen zur Welt.
Harsche Kritik der Tierschützer
Der Landestierschutzverband hält diese Argumente für falsch. „Die Ergebnisse aus Tierversuchen lassen sich oft nur schwer auf den Menschen übertragen und bringen nicht den erhofften Durchbruch “, sagt der Vorsitzende Stefan Hitzler. Tierversuche würden gemacht, weil sie eine jahrzehntelange, ungute Tradition in den Forschungseinrichtungen hätten. „Die Versuche der Landesregierung, Tierversuche einzuschränken, halten wir deswegen für bei Weitem nicht ausreichend, hier wird viel zu wenig getan“, sagt Hitzler. „Die Zahl der Tierversuche hat sich von 2015 auf 2016 noch einmal um 20 000 erhöht, neue Zahlen liegen noch nicht vor. Und das, obwohl es eine breite öffentliche Ablehnung von Tierversuchen gibt. Das ist für mich ein Skandal“, so Hitzler.
Das sieht auch Anne Meinert von der Organisation Peta so. „Deutschlandweit fließt jährlich ein Milliardenbetrag in den Tierversuchsbereich – Baden-Württemberg ist das führende Bundesland bezüglich der Durchführung von Tierversuchen, daher ist die Fördersumme keinesfalls angemessen.“Ihre Forderung: Die Erforschung und Entwicklung von tierleidfreien Alternativen müsse endlich angemessen finanziert werden.
Momentan stehe dafür nur ein Prozent jenes Geldes zur Verfügung, das in die Tierversuchsforschung fließe. „Tierversuche sind Teil eines fehlgeleiteten Systems – sie sind eine Stufe auf der Karriereleiter der Wissenschaft und werden oft vorausgesetzt, um Forschungsgelder zu erhalten oder Ergebnisse publizieren zu können.“