Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Wo Kino mehr ist als nur Film
1979 hat Adrian Kutter die Biberacher Filmfestspiele ins Leben gerufen – Diese Woche geht das 40. Festival über die Bühne
BIBERACH - Zum 40. Mal sind am Dienstag die Biberacher Filmfestspiele (bis Sonntag) eröffnet worden. Wer ergründen will, warum die deutschsprachige Filmszene sich seit 1979 Jahr für Jahr in einer oberschwäbischen Kleinstadt trifft, kommt an Adrian Kutter, dem Gründer des Festivals nicht vorbei. Der inzwischen 75-jährige Biberacher ist seit Jahrzehnten ein unermüdlicher, selbstbewusster, mitunter auch streitbarer Überzeugungstäter, wenn es um den deutschen Film geht.
Kutter und Film – das ist in Biberach eine Verbindung, die mehr als 100 Jahre zurückreicht. Gottlob Friedrich Erpff, Adrian Kutters Großvater mütterlicherseits, eröffnete 1912 das erste Kino der Stadt. Vater Anton Kutter arbeitete bis Mitte der 50erJahre als Filmregisseur in München, ehe er die Leitung des Kinobetriebs in Biberach übernahm.
Sohn Adrian absolvierte zunächst eine Banklehre und studierte dann BWL in Mannheim. Während der kommerzielle deutsche Film Ende der 60er-Jahre von Heimat-, KarlMayund Edgar-Wallace-Filmen sowie billigen Sexklamotten dominiert wurde, machte Kutter in Mannheim Bekanntschaft mit dem französischen Autorenfilm und dem Neuen Deutschen Film. Der Biberacher leitete das Studentenkino des Asta und zeigte im Audimax zweimal pro Woche vor rund 500 Studenten Filme mit einer Einführung und anschließender Diskussion. Ein Konzept, das er bis heute verfolgt. „Kino ist mehr als Film“, lautet Kutters Motto. „Film lebt von der Auseinandersetzung und der Diskussion darüber.“
Probleme mit der Provinz
Nach Biberach wollte Kutter zu dieser Zeit eigentlich nicht mehr zurück, Oberschwaben war ihm zu provinziell. Der Vater überredete ihn schließlich, zurückzukommen und in den Kinobetrieb einzusteigen, der die Existenz der Familie sicherte. Kaum daheim, fasste er 1973 den Entschluss, „kein normales Kino wie in jeder Klein- und Mittelstadt machen zu wollen“. Einen der beiden Kinosäle wandelte er zu einem „Filmkunsttheater“um. Vater Anton Kutter hatte bei seiner Programmauswahl zwar auch Wert auf handwerklich gut gemachte Filme gelegt, mit dem, was der Sohn nun ins Kino brachte, konnte er aber nichts anfangen. Als Adrian Kutter einen der frühen Filme von Rainer Werner Fassbinder, bei dem unter anderem ein Mikro ins Bild ragt und das Laufgeräusch der Kamera zu hören ist, in Biberach zeigte, stürmte der Vater tobend aus dem Kinosaal. „Was für ein Schrott!“, soll er geschimpft haben.
Adrian Kutter jedoch fand Unterstützer für seine Idee des Filmkunsttheaters. In München knüpfte er in den frühen 70ern Kontakt zum „Filmverlag der Autoren“. Junge Filmemacher wie Fassbinder, Wim Wenders oder Hans W. Geissendörfer (heute Produzent der „Lindenstraße“) versuchten dort, ihre nicht am kommerziellen Kino ausgerichteten Filme besser zu vermarkten und auf die Leinwand zu bringen. „Die hatten es in jener Zeit unglaublich schwer“, sagt Kutter.
Als er ihnen anbot, ihre Filme in Biberach zu zeigen, rannte er damit offene Türen ein. Der Erste, der nach Biberach kam und sich mit einem Film der Publikumsdiskussion stellte, war im Dezember 1975 der Regisseur Werner Herzog. Er war von der Stimmung derart begeistert, dass er anregte, Biberach „zu einem Stützpunkt des deutschen Films“auszubauen. Rückhalt erhielt Kutter in seinem Tun auch vom kunstsinnigen Biberacher Oberbürgermeister Claus-Wilhelm Hoffmann und städtischen Kultureinrichtungen. In den Folgejahren holte Kutter weitere, heute klangvolle Namen des deutschen Films an die Riß. Im März 1978 richtete er das „Sternchen“ein – ein kleines Programmkino mit Theke und drehbaren roten Sofas, in dem es sich bei einem oder mehreren Gläsern Wein vortrefflich über Filme diskutieren ließ –„manchmal bis vier Uhr morgens“, erzählt Kutter. „Wenn Kino überlebt, dann hier“, schrieb „Sternchen“-Taufpate Wim Wenders damals ins Gästebuch. Volker Schlöndorff ergänzte bei einem Besuch im Juni 1979: „Biberach ist das Mekka des deutschen Films und Adrian Kutter unser Prophet.“
Einer Anregung des Regisseurs Bernhard Sinkel folgend, veranstaltete Kutter dann Ende 1979 das erste „Filmfest der Deutschen Filmemacher und dem Kinopublikum“, wie die Filmfestspiele etwas holprig bei ihrer Premiere hießen. In zwei Kinosälen wurden an vier Tagen 21 Filme gezeigt, deren 13 Regisseure, darunter Ottokar Runze, Hans W. Geissendörfer, Edgar Reitz und Bernhard Sinkel, sich im Anschluss der Publikumsdiskussion zu stellen hatten.
„Danach kamen einige Dokumentarfilmer auf mich zu und sagten: Mach‘ doch auch für uns ein Festival“, erzählt Kutter. So veranstaltete er 1980 und 1981 jeweils auch noch ein eigenes Dokumentarfilmfestival in
Biberach. Seit 1982 gehören Dokus als eigene Kategorie zu den Biberacher Filmfestspielen.
Adrian Kutter knüpfte Kontakte zu den Filmhochschulen in der Bundesrepublik und gab vielen angehenden Regisseuren die Chance, ihre Abschlussarbeiten – oftmals Kurzfilme – beim Festival in Biberach zu zeigen. Doris Dörrie, Sönke Wortmann, Tom Tykwer oder Roland Emmerich waren an der Riß zu Gast, Jahre bevor die nationale oder internationale Filmwelt sie kannte. „Biberach ist berühmt für seine Aufbauarbeit“, sagt Kutter. Die meisten vergaßen „ihrem“Adrian diese Starthilfe nicht und kommen bis
„Mein eigenes Festival kann mir keinen Preis verleihen!“Adrian Kutter bei den 30. Biberacher Filmfestspielen
heute auch mit ihren großen Kinoproduktionen nach Biberach – im Schlepptau meist viele bekannte Schauspieler, die das Festival so ebenfalls kennen und schätzen lernen; einerseits, weil das Biberacher Publikum so gern diskutiert, andererseits weil man in Biberach eben doch unter sich ist – fernab vom Fotografengetümmel und der Pressemeute bei den großen Festivals. Eine Philosophie, an der Kutter über vier Jahrzehnte festhielt: „Die Filmteams wissen, dass sie hier die normalen Kinogänger vor sich haben und nicht Horden von Akkreditierten und Besserwissern.“Jeder, der die Filmfestspiele einmal besucht hat, kann das bestätigen: Im Biberacher Kinofoyer zeigen sich auch Stars wie Ben Becker, Klaus Maria Brandauer oder Herbert Grönemeyer, die sonst als eher öffentlichkeitsscheu und raubeinig gelten, ganz handzahm im Gespräch mit dem normalen Kinogänger.
So wie sich die Filmbranche in den Jahrzehnten wandelte, so veränderten sich auch die Biberacher Filmfestspiele. Inzwischen werden Preise – in Biberach heißen sie sinnigerweise „Biber“– in neun Kategorien vergeben, seit 2009 auch für den besten Fernsehfilm. „Es gibt inzwischen keinen Film mehr, in dem nicht irgendwelche Fernsehgelder stecken“, sagt Kutter. Oftmals seien es dieselben Regisseure und Schauspieler, die Kino und Fernsehen machen. „Und oft hat das Fernsehen heute die größere Themenvielfalt“, meint Kutter.
Eherne Regel ist in Biberach nach wie vor: Kein Wettbewerbsfilm darf vorher in deutschen Kinos oder im Fernsehen gelaufen sein. Kleine Ausnahmen bestätigen diese Regel: So erhielt 2014 ein Spielfilm den „Goldenen Biber“, der seinen Kinostart einige Wochen zuvor hatte. Wer das Ganze verbockt hat, ließ sich nie ganz klären. Es gab Schuldzuweisungen zwischen Adrian Kutter und dem Vorstand des Vereins „Biberacher Filmfestspiele“.
Schwierige Beziehungen
Dieser ist 2003 gegründet worden, um die Filmfestspiele, die Kutter bis dahin allein gestemmt hatte, organisatorisch und finanziell auf feste Beine zu stellen. Damit begann allerdings auch eine mitunter schwierige Beziehung zwischen Kutter, jetzt Intendant des Festivals, dem Verein und dem jeweiligen Vereinsvorsitzenden. Den ersten, Dieter-Michael Last, brüskierte Kutter 2008 bei der Schlussgala der 30. Filmfestspiele öffentlich, als der Verein ihm für seine Verdienste einen Biber verleihen wollte. „Mein eigenes Festival kann mir keinen Preis verleihen!“, sagte Kutter trotzig unter tosendem Applaus des Publikums und ließ den verdutzten Vorsitzenden allein auf der Bühne zurück.
2009 traf das Alphatier Kutter dann auf Seinesgleichen: Lasts Nachfolger wurde Werner Krug, eine Art Allzweckwaffe, wenn es in Biberach um Vereinsführungen geht. Während die Filmfestspiele nach außen ihren Glamour bewahrten, flogen in dieser Zeit hinter den Kulissen immer mal wieder die Fetzen, wenn Kutter seinen Freigeist nach Krugs Meinung zu sehr auslebte oder Letzterer sich nach Kutters Ansicht bei „seinem“Festival zu sehr in den Vordergrund spielte. Mit Krugs Nachfolger Tobias Meinhold hat Anfang 2017 wieder mehr Ruhe Einzug gehalten. Was wohl auch daran liegt, dass sich beide Seiten gewähren lassen: Adrian Kutter kümmert sich um die Filme und die Filmschaffenden, der Verein um den Rest – unterstützt vom Team des Kinos „Traumpalast“, das Kutter 2007 an Kinobetreiber Heinz Lochmann verkauft hat.
Die Biberacher Filmfestspiele brummen. Mehr als 60 Filme sind auch in diesem Jahr bei rund 100 Aufführungen zu sehen, auch die Zuschauerzahl hat sich seit Jahren stabil jenseits der 13 000er-Marke eingependelt. Das sichert die Finanzierung des Festivals ab, zusammen mit wirtschaftsstarken örtlichen Sponsoren. Stadt und Land tragen mit Fördergeldern ebenfalls dazu bei.
Nichts bleibt, wie es war
Für Adrian Kutter („Ich fühle mich auch mit 75 noch topfit“) aber kein Erfolg, auf dem man sich ausruhen sollte. „Wir müssen uns überlegen, wie wir mit den Streamingdiensten von Amazon und Netflix und deren Film- und Serienproduktionen umgehen“, sagt er. Einige Festivals, darunter die Berlinale, hätten sie bereits ins Programm aufgenommen. Auch die Biberacher Filmfestspiele könnten sich dem nicht entziehen, wollen sie weiter erfolgreich sein.
Aber geht man ins Kino, um sich dort Filme anzusehen, die eigentlich fürs Streaming auf dem Tablet oder dem PC produziert wurden? Für Adrian Kutter ist das keine Frage: „Es ist das Erlebnis. Kino ist mehr als Film. Deshalb wird das Kino auch nicht sterben.“