Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Gerbst du derbst?
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ob dieses Zitat wirklich von Lenin stammt, lässt sich nicht genau sagen. Aber beherzigenswert ist es allemal. Letzte Woche hat es an dieser Stelle mit der Kontrolle gehapert. Herbst reime sich lediglich auf zwei Wörter, nämlich auf erbst und färbst. So stand es da, weil es so in Reclams Reimlexikon steht. Aber das ist schlichtweg falsch.
Nun gilt dieses Reimlexikon von Willy Steputat, 1891 erstmals bei Reclam erschienen, mit seinen rund 30 000 Reimwörtern als bekanntestes Nachschlagewerk für Verseschmiede. Es wird auch permanent aktualisiert. So trägt etwa die Ausgabe 2015 mit über 300 neu aufgenommenen Wörtern dem immer stärker werdenden Einfluss des Englischen Rechnung – etwa nach dem Muster: In Delphi schnell ein Selfie; bei Gewittern nicht twittern; nach dem Grillen erst mal chillen. Aber bei Herbst gibt es in diesem Lexikon Lücken, und diese auszufüllen, war jetzt reimtechnisch versierten Koryphäen unter unseren Lesern vorbehalten.
Ad 1: „Mit Ihrer Glosse liegen Sie derbst daneben“. So hätte jemand letzte Woche schreiben können – und
Rolf Waldvogel
den Duden auf seiner Seite gehabt. Denn dieser Superlativ von derb – im Sinne von sehr grob, unsagbar, furchtbar, übelst – klingt zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aber ist korrekt. Ad 2: Auch kerbst passt ins Schema. Ein Beispiel, bei dem man die respektlose Annäherung an Franz Schuberts „Lindenbaum“verzeihen möge: „Du kerbst in seine Rinde so manches süße Wort.“
Ad 3: Schließlich ist auch gerbst eine gängige Form. Frage an einen befreundeten Lederfabrikanten: „Gerbst du heute noch Felle traditionell oder ist das nicht mehr lukrativ?“Nebenbei bemerkt: Auf diese Form nicht selbst gekommen zu sein, ist für den Nachfahren einer über Jahrhunderte im Gerberhandwerk tätigen Familie aus dem Schwarzwald eher peinlich. Da hätte einem der Urgroßvater das Fell über die Ohren gezogen.
Sollten Leser nun noch weitere nicht berücksichtigte Formen finden, bitte melden! Wir sind lernfähig – und informieren dann auch die Reclam-Redaktion. Verballhornungen werden allerdings nicht akzeptiert. Etwa Marke Dieter Hildebrandt. Der unvergessene Kabarettist war Schlesier und hat das immer lustvoll zelebriert. Hier die Herbst-Strophe aus seinem Jahreszeiten-Zyklus:
Wenn du und das Laub wird älter, und du merkst, die Luft wird kälter, und du fiehlst, doss du bald stärbst dann is Härbst.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wenn Sie Anregungen zu Sprachthemen haben, schreiben Sie! Schwäbische Zeitung, Kulturredaktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg
r.waldvogel@schwaebische.de