Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ein kleines bisschen Horrorschau im Dschungel
Gegen eine Nachtwanderung durch Surinams finsteren Regenwald ist Halloween das reinste Kaffeekränzchen
Das Gruseln hat kein Ende. Obwohl Halloween bereits vorbei ist. Doch wer durch den stockfinsteren Regenwald von Surinam wandert, erlebt die reinste Amazonas-Dschungel-Horrorschau. Allerdings spielt sich der Gruselfilm eher im Kopf als in der Realitität ab.
„Viel Spaß in Afrika!“wünscht der Taxifahrer, der mich zum Flughafen bringt und sich nach meinem Reiseziel erkundigt hat. Ein fragwürdiger Wunsch. Denn erstens liegt Surinam nicht in Afrika, sondern an der Nordküste Südamerikas zwischen Venezuela und Brasilien. Und zweitens drohte eine Konfrontation mit menschlichen Urängsten.
Hinterm Baum lauern Gefahren
Wie werde ich reagieren, wenn ich das erste Mal außerhalb eines Zoos behaarte Spinnenbeine und glänzende Schlangenkörper zu Gesicht kriege? Nicht getrennt durch eine dicke Glasscheibe, sondern direkt vor der Nase? Ich bin zwar weder Schlangennoch Spinnenphobiker, doch die fetten Anacondas, die kraftstrotzenden Boas und die bierdeckelgroßen Vogelspinnen mit ihren unrasierten Beinen sind eine andere Hausnummer als Blindschleiche oder deutsche Hausspinne. An die messerscharfen Beißerchen der Dschungelraubkatzen erst gar nicht zu denken.
Man braucht nicht einmal viel Fantasie, um den Amazonas-Regenwald zum großen Albtraum aufzubauschen. An jeder Ecke, unter jeder Wurzel, hinter jedem der Abertausend Bäume lauern Gefahren. Der Verstand schlägt Alarm: Man könnte von einem Puma erlegt, von einem Jaguar gepackt werden. Boas oder Anakondas könnten einen erwürgen und mit Haut und Haaren verschlingen. Skorpione oder riesige Spinnen einen beißen und piksen. Ameisen, jedes Exemplar fast so groß wie ein Ein-Euro-Stück, einen in Koloniestärke überrennen und schmerzvoll zu Tode knabbern. Giftige Frösche einen anspucken. Und zu guter Letzt könnte man von Piranhas zerfleischt werden. „Es ist eine Tatsache, dass im Bett mehr Menschen sterben, als im Dschungel“, sagt unser Guide seelenruhig. Shane Keiran Samuels ist ein Nachfahre der Arawak-Indianer. Die Arawak besiedelten Teile des nördlichen Amazonas-Regenwalds. Shane kennt sich im Dschungel aus, wuchs er doch in einer kleinen Siedlung im Amazonas auf. Genauer gesagt in Guyana, einem Nachbarland von Surinam. Beide gelten als grünste Länder der Erde. Weit über 90 Prozent sind von dichtem Regenwald bedeckt. Derart dicht, dass selbst bei Vollmond kaum Licht durchdringt.
Dafür sind von allen Seiten unerklärliche Geräusche zu vernehmen. Es zischelt und zirpt, es raschelt und knistert, es summt und brummt, es pfeift und surrt – unaufhörlich, 24 Stunden lang. Ein ständiger Klangteppich aus exotischen Geräuschen, von denen man keine Ahnung hat, aus welcher Richtung sie gerade kommen. Ist der imaginäre Feind über einem? Neben einem? Unter einem? „Keine Sorge“, sagt Shane, „die meisten Tiere sind mit Flüchten und Fressen beschäftigt?“Mit Fressen?! „Ja, aber keine Menschen“, beruhigt Shane, „vor allem nicht, wenn wir in einer Gruppe unterwegs sind.“Ich bin nicht der Einzige, der darüber beruhigt ist.
Bei aller verbliebenen Gänsehaut, man will was vor die Kamera kriegen, seltene Spezies entdecken, Nervenkitzel spüren – ein kleines bisschen Horrorschau, wie schon die Toten Hosen sagten. Damit das Herz nicht vollends in die Hose rutscht, hat Shane Stirn- und Taschenlampen mitgebracht. Ein erstes Ausleuchten ergibt: kein Feind in Sicht.
Dafür flattert völlig unvermittelt ein Blauer Monarch um uns herum, setzt sich mitten auf Shanes Stirn – angezogen vom grellen Schein der Lampen. Den ganzen Tag über hatten wir verzweifelt versucht, den riesigen und wunderschön blau glänzenden Schmetterling vor die Linse zu kriegen. Und jetzt sitzt er seelenruhig auf Shanes Kopf und steht geduldig Modell. Majestätisch und anmutig, so dass im Nu alles um uns herum vergessen ist – auch die potenzielle Gefahr im Dschungel.
Plötzlich hält Shane inne. Mit seinem Zeigefinger tippt er sich an den Mund: psst. In den Ästen über uns hat er etwas wahrgenommen. Und tatsächlich: Eine Baumboa in einem knalligen Orange hängt direkt über unseren Köpfen. So nah, dass Shane sie mit einem Zweig herunterhieven und uns direkt vor die Nase halten kann. Und das Unglaubliche: Der Ansporn, das Tier vorteilhaft abzulichten, macht alle Ängste vergessen.
Jetzt ist die Gruppe von Abenteuerund Entdeckerlust gepackt: her mit den Vogelspinnen und Taranteln, den Skorpionen und Raubkatzen, den Pumas, Ozelots und Jaguars. Doch Shane muss uns enttäuschen: „Raubkatzen mögen es zwar überhaupt nicht, wenn jemand in ihrem Territorium herumspaziert, aber sie werden nicht angreifen. Wir sind zu viele.“Sie würden vorher Reißaus nehmen. Nur ein einziges Mal in seinem Dschungelleben sei er in Gefahr geraten. Nämlich als ihm ein Jaguar nachstellte. Das gefleckte Tier wurde von Amazonas-Indianern „yaguar” getauft, was so viel bedeutet wie „Räuber, der seine Beute mit einem einzigen Sprung erlegt“. Prost, Mahlzeit! Allerdings hatte er es wohl eher auf Shanes Jagdbeute – ein Wildschwein abgesehen – und weniger auf Shane selbst.
Ein Ozelot namens Lotje
Worüber wir froh sind, denn der 25Jährige ist ein exzellenter Dschungelführer mit profunder Kenntnis der Pflanzen und Bäume („der Regenwald ist Apotheke und Baumarkt zugleich“). Und ein herausragender Späher mit Adleraugen. Mit seiner Hilfe bekommen wir eine weitere Boa vor die Linse – dieses Mal neongrün –, Taranteln, Skorpione und Vogelspinnen. Mit Zweigen lockt er sie aus ihren Verstecken, ebenso die gefürchteten Tropischen Riesenameisen. Sie werden auch Gewehrkugelameisen genannt, weil ihr Biss höllisch wehtut. Ihre Opfer berichten von einem Schmerz, als würde man innerlich verbrennen. Diesen Qualen mussten sich Shanes männliche Vorfahren noch aussetzen – als Teil eines Initiationsrituals.
Auf diese Erfahrung verzichten wir gerne. Doch eine Raubkatze würden wir allzu gerne noch zu Gesicht kriegen. Dabei hilft ein Trick: Die Dschungellodge, für die Shane arbeitet, legt allabendlich Fleisch aus. Das hat seinen Grund, denn ein Ozelot hatte wochenlang Fische gemopst, die von Mitarbeitern zum Trocknen aufgehängt wurde. Bis er von einer Kamera auf frischer Tat ertappt wurde. Seitdem wird das weibliche Tier mit Futter von den Fischen abgelenkt. Und dabei lässt sich Lotje auch nicht von Touristen stören. Lotje? Ein ungewöhnlicher Name für eine südamerikanische Raubkatze. Die Erklärung: Surinam war einst niederländische Kolonie, Niederländisch ist Amtssprache. Den Dschungeltieren ist’s egal. Die pfeifen drauf. Unaufhörlich. 24 Stunden lang.
Die Recherche wurde unterstützt von dem Veranstalter Reisen mit Sinnen.