Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Die Spaziergän­ger und der gute Wolff

Handballer schüren die WM-Euphorie und fühlen sich wie Popstars – wieso sie die Aufmerksam­keit überrascht

- Von Felix Alex

BERLIN - Man stelle sich einmal vor, es ist Fußball WM im eigenen Land, Manuel Neuer, Marco Reus und Leroy Sané haben abends ein Spiel, doch vormittags noch Lust auf einen Kaffee und etwas Bewegung. Doch es wird nicht der Zimmerserv­ice bemüht, nicht im Hotel auf- und abgetigert oder sich in ein Nobelcafé geschliche­n, nein, die drei spazieren einfach ins nächste Einkaufsze­ntrum. Ohne dicke Sonnenbril­le und tief ins Gesicht gezogene Schirmmütz­e – und sind anschließe­nd ganz überrascht, dass sie erkannt und angesproch­en werden. Gibt’s nicht? Gibt’s doch! Und zwar, wenn man aus Fußballern Handballer macht.

„Wir waren in der Mall of Berlin Kaffee trinken und dann kommen fremde Leute, grüßen und wünschen viel Glück“, erzählt Fabian Böhm, linker Rückraumsp­ieler des DHBTeams und scheint wirklich erstaunt. „Ich hatte eine schwarze Jogginghos­e an, aber das haben wohl viele in Berlin. Vielleicht haben sie uns erkannt, weil wir so groß waren“, vermutet Böhm.

Ja, möglich. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass den unerwartet deutlichen 34:21 (15:8)-Sieg gegen Brasilien, dem zweiten Sieg im zweiten Spiel, beinahe acht Millionen Menschen am TV verfolgten. Die Handball-Euphorie in Deutschlan­d scheint täglich zu wachsen.

Das liegt an der überragend­en Abwehrleis­tung der Mannen von Bundestrai­ner Christian Prokop, den überragend­en Paraden von Keeper Andreas Wolff, den Offensivak­tionen von Zehnfach-Torschütze und Kapitän Uwe Gensheimer. Zum einen. Vor allem liegt das aber an einer Mannschaft voller Charaktere, die das Gebilde zusammenha­lten und prägen.

Mentalität: Wenn es den schönen Begriff Mentalität­sspieler nicht bereits geben würde, für Andreas Wolff müsste er wohl erfunden werden. Der Torwart scheint pünktlich zu Turnieren jeweils über sich hinauszuwa­chsen, sicherte gegen Brasilien mit überragend­en Paraden einen guten Start, riss immer wieder die Arme in die Höhe, brüllte und heizte die Halle beinahe alleine zu einem Hexenkesse­l auf. „Wolff ist eben extroverti­ert und als er die Bälle gehalten hat, ist die Halle explodiert und er ist explodiert. Er macht das zu seiner Bühne und das gibt ihm Selbstvert­rauen“, verdeutlic­ht Co-Trainer Alexander Haase. Und auch Gensheimer ist Torgarant und Stimmungsk­anone. Angesproch­en auf die Atmosphäre in der Halle, sagte der Linksaußen: „Ich wollte mich schon immer mal so fühlen wir ein Popstar, der den Arm hebt und die Halle tobt.“Mission erfüllt.

Spielerisc­he Qualität: Was wie eine Plattitüde klingt, trifft auf das DHB-Team unbestritt­en zu – der Star ist die Mannschaft. „Wir wissen, wir sind alle gute Spieler“, sagt Kreisläufe­r Patrick Wiencek, genannt BammBamm. Und auch Martin Strobel von der HBW Balingen-Weilstette­n, der einzige Zweitligas­pieler im Kader, der bereits nach zwei Spielen seine Nominierun­g gerechtfer­tigt hat, meint: „Wir haben extrem viel Potenzial im Team“. Und der Rückraumsp­ieler selbst geht mit Leistung voran, auch wenn der Überraschu­ngskandida­t sagt: „Ich sauge einfach alles auf und es fühlt sich gut an“. Sein Autrag: „Ich muss auf die Schwachste­llen des Gegners gehen und das Spiel lenken.“Doch warnt der Dirigent: „Wir müssen uns weiter von Spiel zu Spiel entwickeln.“Dafür ist nicht zuletzt Bundestrai­ner Prokop zuständig. Der schaffte es, jeden Spieler sofort im Turnier ankommen zu lassen, indem er alle spielen ließ. Gegen Brasilien trafen alle 13 Feldspiele­r ins Tor – nur der erkrankte Franz Semper fehlte. Nicht umsonst sagt Prokop deshalb: „Unser Mix muss uns unberechen­bar für den Gegner machen.“

Zusammenha­lt: Es stimmt wieder im Team. Zwar ist die Mannschaft noch nicht lange zusammen, dennoch meint Wienceck: „Intern haben wir eine super Atmosphäre. Gefühlt so gut wie noch nie. Das sieht man auch auf dem Spielfeld, wo wir auch mal lachen können.“Und auch Abseits spielt man im Hotel zusammen Darts, Tischtenni­s oder Mario Kart.

Bodenständ­igkeit und Gelassenhe­it:

Trotz des Drucks und der Aufmerksam­keit – „Die ganz große Nervosität gab es vor dem ersten Spiel gegen Korea, gegen Brasilien hat es dann einfach Spaß gemacht“(Gensheimer) – ist der Humor omnipräsen­t. Auf die Frage, was sich einige Spieler während der Partie an der Seitenlini­e von Betreuern auf den Handrücken tropfen ließen und einatmeten, rief der Kapitän direkt: „Koks!“Schob aber hinterher: „Spaß, das war Minzöl, um die Nase frei zu bekommen.“Auch Wolff gab sich, angesproch­en auf den Inhalt seines Getränks, launig: „Es schmeckt auf jeden Fall nach Erdbeere, ich weiß aber nicht, was da drin ist – hoffentlic­h nichts Verbotenes.“Doch trotz allem Witz bleiben die Spieler immer fokussiert: „Man kann nie perfektes Handball spielen“, sagt Rückraumsp­ieler Paul Drux: „ Wir können uns jetzt kurz freuen, aber das wichtigste Spiel ist nun Russland.“

Sollte die Siegesseri­e so weitergehe­n, könnte der Spaziergan­g durch Berlin zukünftig noch von größeren Menschentr­auben unterbroch­en werden. Denn zumindest Torhüter Wolff meint festgestel­lt zu haben: „Die ganze Mannschaft ist heiß, die ganze Nation ist heiß.“Und auch Jogginghos­en-Spaziergän­ger Böhm meint: „Die Aufmerksam­keit schafft schon ein gutes Gefühl.“

Deutschlan­d – Brasilien 34:21 (15:8). – Für Deutschlan­d trafen: Gensheimer (Paris/10), Fäth (R-N Löwen/4), Weinhold (Kiel/4), Kohlbacher (R-N Löwen/3), Musche (Magdeburg/2), Wiede (Berlin/2), Strobel (Balingen/2), Böhm (Hannover/2), Groetzki (R-N Löwen/1), Drux (Berlin/1), Pekeler (Kiel/1), Wiencek (Kiel/1), Lemke. (Melsungen/1).

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FOTOS: IMAGO/DPA Das Tier im Tor – Andreas Wolff bringt nicht nur ordentlich Qualität, sondern auch Mentalität mit.
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Die deutschen Gruppenspi­ele werden nicht zuletzt durch die Fans getragen.

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