Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ein bisschen Stolz ist erlaubt
Ein trauriger Befund: 30 Jahre nach dem Mauerfall sind die Gräben noch da. Das liegt auch daran, dass viele Ostdeutsche die Lage in Westdeutschland überschätzen, immer überschätzt haben. „Wir träumten vom Paradies und wachten auf in NRW“hat Joachim Gauck einmal das Wende-Gefühl beschrieben. Und immer noch prägen Missverständnisse das Ost-West-Verhältnis. Jeder Ostdeutsche weiß, dass die Renten in Ostdeutschland niedriger sind, aber nur wenige wissen, dass ihre Beiträge in die Rente deshalb höher bewertet werden.
Die Unzufriedenheit wird von links und rechts befeuert: Die Treuhand habe die ostdeutsche Industrie plattgemacht, suggerieren die Linken. Nein, es war nicht die Treuhand, es war der SED-Staat, der die Wirtschaft vor die Wand fuhr. Von der AfD wiederum wird kräftig die Stimmung befördert, dass die Ostdeutschen für die Westdeutschen ja weiterhin Bürger zweiter Klasse seien, die erst einmal umerzogen werden müssten. Auch das ist falsch. Als die Republikaner in Baden-Württemberg vor knapp 30 Jahren in den Landtag einzogen, wurde im Land genauso intensiv über Demokratie und ihre Defizite geredet wie heute in Sachsen.
Und dann noch die Elitenfrage: Kein Universitätsrektor, kein Bundesrichter ist Ostdeutscher? Das stimmt – aber man sollte auch daran denken, dass Bundesrichter und Unirektoren in der Regel im mittleren oder höheren Alter sind, und ein Ostdeutscher, der sofort nach der Wende studierte, heute erst knapp 50 ist.
Nein, man kann nicht rundum zufrieden sein mit der Entwicklung, denn Deutschland ist noch immer nicht eins. Die Annäherung der Lebensverhältnisse aber hat Riesenfortschritte gemacht. Und zwei Drittel der Ostdeutschen schätzen ihre persönliche Lage besser ein als 1990. Diese Erfolge sollte man sich weder von den Linken noch von der AfD kleinreden lassen, sondern auch einmal ein bisschen stolz sein auf all das, was schon erreicht wurde. Und man sollte sich nicht so leicht die Stimmung vermiesen lassen. Weder in Ost noch in West.