Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Technologie statt Tierleid
FREIBURG/NEUBIBERG - Rund 300 Menschen haben sich auf einem Platz in Freiburg versammelt. Sie rufen Parolen, pusten ihre Empörung in Trillerpfeifen. „Steht auf gegen Tierversuche“, ist auf den Schildern zu lesen, die die Demonstranten hochhalten. Der Protest, der sich im Februar formierte, bevor die Corona-Krise das öffentliche Leben lahmlegte, richtet sich gegen ein neues Forschungszentrum, das die Universitätsklinik aktuell in der Studentenstadt baut. 165 Wissenschaftler sollen dort künftig an schädlichen Genveränderungen forschen und herausfinden, wie erkranktes Erbgut korrigiert werden kann. Rund 10 000 Tiere sollen dabei für Versuche zum Einsatz kommen. Baden-Württemberg ist in Sachen Tierversuche Spitzenreiter. In keinem anderen Bundesland setzten Wissenschaftler im Jahr 2018 mehr Versuchstiere ein. Rund 534 000 Tiere kamen laut Bundeslandwirtschaftsminister zusammen. Für Tierschützer ist jedes einzelne davon zu viel. Und nun dieses Bauprojekt für 54 Millionen Euro – für die Demonstranten völliger Wahnsinn. Denn aus ihrer Sicht gibt es gute Alternativen.
An einer solchen arbeitet das Biotech-Unternehmen Cellasys in den Laborräumen der Akademie für Tierschutz in Neubiberg in der Nähe von München. Hinter einem schwarz-gelben Band auf dem Boden beginnt der Laborbereich, ab hier geht es nur mit Schuhüberziehern weiter. Joachim Wiest, der Cellasys-Geschäftsführer, legt einen weißen Laborkittel und Gummihandschuhe an. In einem Brutschrank züchten er und seine Mitarbeiter Zellkulturen und verpflanzen sie auf gelbe, drei mal drei Zentimeter große Quadrate, die von goldfarbenen Linien durchzogen sind – Mikrochips. Sie erfassen Sauerstoffgehalt, PH-Wert und das Wachstumsverhalten der Proben. „Wir können mit dem Chip sehen, wie es den Zellen geht“, sagt Wiest. Die Wissenschaftler können Gewebezellen so direkt mit einem Wirkstoff in Kontakt bringen und beobachten, wie diese darauf reagieren. So hat das Unternehmen bereits ein Modell entwickelt, um herauszufinden, ob Stoffe Augenreizungen auslösen. Dazu setzen die Wissenschaftler Bindegewebszellen auf ihre Messchips und beobachten, wie sich die Messparameter verändern. Ein Verfahren, das in Zukunft den sogenannten Draize-Test ersetzen könnte, bei dem die Prüfstoffe bislang noch in die Augen von Kaninchen geträufelt werden.
Derzeit arbeitet das Unternehmen an einem Modell, mit dem Medikamente darauf geprüft werden können, ob sie schädlich für die Leber sind. „Immer wieder werden Medikamente vom Markt zurückgerufen, weil sie lebertoxisch sind“, sagt Wiest. Obwohl diese zuvor erfolgreich an Versuchstieren getestet wurden. „Weil der Stoffwechsel von Tieren einfach anders ist, als der vom Menschen“, sagt Wiest. Doch Modelle wie dieses sind erst der Anfang. In Wiests Labor steht eine Art Kühlschrank, in dem sechs Metallkästchen aufgereiht sind. In jedem davon einer der Mikrochips verbunden mit kleinen Schläuchen, durch die eine rötliche Nährstoffflüssigkeit fließt – die Simulation eines Blutkreislaufs. So lassen sich mehrere Chips miteinander verschalten. In Zukunft können beispielsweise Chips mit Leberzellen und solche mit Krebszellen miteinander verbunden werden. So ließe sich beobachten, wie Leberzellen ein Medikament verstoffwechseln und dieses dann auf den Krebs einwirkt. Eine Möglichkeit, um die Wirksamkeit etwa von Chemotherapien auf den Patienten zu testen, bevor der das Medikament überhaupt einnimmt – ohne jegliche Nebenwirkungen. Die Vision: Der ganze Mensch auf einem Chip.
Zahlreiche Universitäten und Biotech-Unternehmen arbeiten derzeit an solchen Ansätzen. Am Lehrstuhl für In-vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Universität Konstanz tüfteln Wissenschaftler etwa an Kulturen von Nervenzellen, an der Universität Freiburg werden Sensoren für die Vermessung von Zellen entwickelt, an der Universität Tübingen fördert das Landeswissenschaftsministerium bereits seit 2018 eine Brücken-Juniorprofessur für „Experimentelle Regenerative Medizin“mit insgesamt bis zu 490 000 Euro. Die Liste ist lang.
„Die Technologie ist fertig“, sagt Wiest. Doch angewendet wird sein Cellasys-Modell zur Prüfung von Augenreizbarkeit noch nicht – die Tests an Kaninchen gehen vorerst weiter. Denn die bürokratischen Hürden zur Anerkennung der neuen Verfahren seien hoch, so Wiest, mindestens drei andere Labors müssten überprüfen, dass das System wirklich funktioniert. Ein Verfahren, das viel Geld und vor allem Zeit kostet. Mit bis zu zehn Jahren kalkuliert Wiest für die Anerkennung. Dann würde der Draize-Test sogar verboten werden. Es gilt der Grundsatz: Gibt es eine Ersatzmethode für eine Fragestellung, sind Tierversuche verboten.
Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sind in Deutschland 2 825 066 Tiere im Jahr 2018 bei Tierversuchen zum Einsatz gekommen – hauptsächlich Nagetiere, vor allem Mäuse und Ratten. Etwa 23 Prozent der Tiere wurden bei der Herstellung oder Qualitätskontrolle von medizinischen Produkten wie zum Beispiel
„Das Problem ist, dass Tierversuche in den Universitäten Tradition haben und wenig hinterfragt werden.“
Kristina Wagner von der Akademie für Tierschutz
Impfstoffen oder für toxikologische Sicherheitsprüfungen von Arzneimitteln eingesetzt. 44 Prozent der in Versuchen verwendeten Tiere dienten der Grundlagenforschung, zum Beispiel der Forschung im Bereich des Immun- und Nervensystems. Rund 18 Prozent wurden für sonstige Zwecke, wie zum Beispiel zur Aus- oder Weiterbildung an Hochschulen oder für die Zucht von genetisch veränderten Tieren, benötigt.
„Es ist noch viel zu tun. Wir sind noch lange nicht arbeitslos“, sagt Kristina Wagner, Abteilungsleiterin für Alternativmethoden zu Tierversuchen bei der Akademie für Tierschutz. Wenn es nach der Diplombiologin geht, werden bald alle Tierversuche gestrichen und durch alternative Verfahren ersetzt. „Es ist absurd auf Methoden zu setzen, die uns wissenschaftlich nicht weiterbringen und zudem ethisch fragwürdig sind“, sagt Wagner. Denn darüber, wie vertrauenswürdig Ergebnisse aus Tierversuchen sind, gibt es unterschiedliche Meinungen. „90 Prozent der Wirkstoffe versagen in der klinischen Phase“, erklärt Wagner. Also erst nachdem sie schon mit Tieren getestet wurden und zum ersten Mal mit menschlichen Probanden in Kontakt kommen. Für Wagner ist das ein Beweis dafür, dass die Ergebnisse aus Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar sind. Der Mensch sei eben keine 70Kilogramm-Ratte.
Für die Biologin ist der Umgang mit Tierversuchen aber vor allem eine Frage der Einstellung. „Das Problem ist, dass Tierversuche in den Universitäten Tradition haben und wenig hinterfragt werden“, sagt sie. In der Forschung müsse endlich ein Umdenken stattfinden. Und: Es müsse endlich mehr Geld in tierversuchsfreie Forschung gesteckt werden, fordert sie.
Aus Sicht der Tierversuchsgegner ist auch die aktuelle Suche nach Impfstoffen gegen die durch das Coronavirus ausgelöste Lungenkrankheit Covid-19 ein gutes Beispiel für verpasste Chancen in der Vergangenheit. „Hätte man schon längst mehr Geld in die Entwicklung
„Alles was ich sagen kann, ist, dass Grundlagenforschung zurzeit in echter Gefahr ist.“
humanrelevanter In-vitroMethoden investiert, dann hätte man jetzt vermutlich bessere Testmethoden an der Hand, um Infizierten schnellstmöglich zu helfen und wirksame Impfstoffe zu entwickeln“, heißt es etwa in einer Stellungnahme des Vereins Ärzte gegen Tierversuche. „Dieser Sachverhalt zeigt einmal mehr, dass die archaische Testmethode Tierversuch keineswegs essenziell für den medizinischen Fortschritt ist, sondern diesen behindert“, heißt es weiter.
Doch manche Forschungsbereiche werden wohl auch in Zukunft nicht ohne Labortiere auskommen. Vor allem die Grundlagenforschung wäre von einem Verbot von Tierversuchen betroffen, halten deren Vertreter dagegen. „Organe wie unser Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen sind so kompliziert aufgebaut, dass sich ihre Funktionsweise nicht mit einer Kultur von einigen Tausend Nervenzellen untersuchen lässt“, sagt etwa Daniel Fleiter, Pressesprecher des Max-Planck-Instituts für Kybernetik in Tübingen. Medikamente für Erkrankungen des Gehirns wie Depressionen, Alzheimer oder Parkinson ließen sich nicht mit Zellkulturen oder Computermodellen entwickeln. Gerade das MaxPlanck-Institut war in den vergangenen Jahren wegen seiner Tierversuche heftig unter Beschuss geraten. Tierschützer hatten im Jahr 2014 Bilder von Affen mit in den Schädel implantierten Elektroden veröffentlicht. Der Direktor des Instituts, der renommierte Hirnforscher Professor Nikos Logothetis, der einst gar für den Nobelpreis gehandelt wurde, erhielt Morddrohungen.
Der Wochenzeitung „Die Zeit“erzählte er 2018, dass ihm nicht einmal mehr sein Friseur die Haare schneiden wollte. Obwohl die strafrechtlich relevanten Vorwürfe der Tierquälerei nie bewiesen wurden. Das Amtsgericht Tübingen stellte ein Verfahren gegen ihn ein. „Alles was ich sagen kann, ist, dass Grundlagenforschung zurzeit in echter Gefahr ist“, erklärte Logothetis im Februar. Die biologische Forschung – und hier insbesondere die System-Neurowissenschaft – könne ohne direkte und invasive experimentelle Verfahren bei Tieren, insbesondere an Primaten, nicht auskommen. Logothetis kehrt Deutschland nun den Rücken. Er will seine Forschung in China fortsetzen.
Eine leistungsfähige Forschungslandschaft auf der einen Seite und andererseits der Verzicht darauf, Tieren Leid zuzufügen – schließt sich das aus? „Das Empfinden der Tiere gegen die Erkenntnisgewinne abzuwägen, wird ein schwieriger Spagat bleiben, der keinen unberührt lässt“, sagt Theresia Bauer (Grüne), Wissenschaftsministerin in Baden-Württemberg. Bei Tierversuchen müssten ohne Wenn und Aber allerhöchste Standards gewährleistet und Transparenz sichergestellt werden. „Das erklärte Ziel ist es, die Zahl der Tierversuche und den Umfang der eingesetzten Tiere im Land zu verringern, ohne die Freiheit der Forschung zu gefährden“, so Bauer.
Die Bauarbeiten am Institute for Disease Modeling and Targeted Medicine in Freiburg laufen weiter. 2022 sollen die Laborräume bezugsfertig sein. Und damit auch die rund 3000 Käfige.
Professor Nikos Logothetis, Hirnforscher