Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Abrechnung im Weltparlament für Gesundheit
Vor der WHO-Jahrestagung bereiten China und die USA einen Schlagabtausch zur Corona-Pandemie vor
GENF - Der Schauplatz des Showdowns ist virtuell: Die 194 Mitgliedsländer der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schalten sich an diesem Montag und Dienstag zu ihrem Jahrestreffen zusammen. Beherrscht wird die Online-Weltgesundheitsversammlung mit Ministern und anderen hochrangigen Politikern von der verheerenden Corona-Pandemie. Die USA unter Präsident Donald Trump wollen China und die WHO an den Pranger stellen. Die Gesundheitswächterin der Vereinten Nationen rutscht immer tiefer in die schwerste Krise seit der Gründung 1948.
Was werfen die USA China vor?
US-Präsident Donald Trump wirft dem Ursprungsland des Erregers Vertuschen und Versagen vor. Der strategische Rivale hätte das „Virus schnell stoppen können und es hätte sich nicht überall auf der Welt verbreitet“, sagt der US-Präsident, der das Coronavirus lange Zeit herunterspielte. Trump behauptet sogar, dass der Erreger aus einem chinesischen Labor stammt. US-Außenminister Mike Pompeo teilt ebenso aus: China habe zu lange die hochgefährliche „Mensch-zu-Mensch-Übertragung“verschwiegen. Und das autoritär regierte Reich der Mitte habe Proben des Erregers „zerstören“lassen, anstatt sie an ausländische Labore weiterzureichen – damit werde die Entwicklung eines Impfstoffes behindert.
Auch Kenneth Roth, Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, und ein harter Kritiker Trumps, hält fest, dass Chinas Behörden „Nachrichten unterdrückten und rigoros zensierten“. Roth erinnert an Warner wie der Arzt Li Wenliang: „Sie wurden mundtot gemacht.“
Wie reagiert Chinas Führung?
Peking weist alle Vorwürfe zurück. Zwar wolle sein Land bei der Weltgesundheitsversammlung „keine Schlacht mit den USA“, versichert Chinas Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf, Chen Xu. Seine Regierung sei aber „auf alles vorbereitet“. Hinter den Kulissen mobilisiert China verbündete und wirtschaftlich abhängige Staaten, um eine Front gegen die US-Angriffe zu bilden. Chinas staatlich gelenkte Medien werfen den USA eine Kampagne vor. In der Pekinger „Global Times“heißt es: „Chinas Leistung im Kampf gegen Covid-19 ist viel besser als die der USA.“
Welche Aufgaben erfüllt die WHO in der Corona-Pandemie?
Die WHO, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, veranschlagt ein Budget von 4,8 Milliarden US-Dollar für 2020 und 2021, beschäftigt rund 7000 Mitarbeiter, kämpft gegen Killerkrankheiten wie Malaria, Aids, Tuberkulose und Krebs, verfasst medizinische Richtlinien. Sie unterstützt die Länder bei einem internationalen Gesundheitsnotstand, der höchsten globalen Alarmstufe gegen Krankheiten. Der Corona-Ausbruch ist so ein Notstand. Die WHO übernimmt laut den internationalen Gesundheitsvorschriften koordinierende Aufgaben, soweit das bei 194 Mitgliedsländern möglich ist. Sie treibt die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 voran, sie bündelt Kräfte bei der Bereitstellung eines Heilmittels, liefert Schutzbekleidung, trainiert Pflegekräfte, veröffentlicht Daten und gibt Empfehlungen. Im Krisenzentrum der WHO, dem SHOC (Strategic Health Operations Centre), tief unter der Genfer Zentrale, laufen rund um die Uhr Informationen über die Pandemie zusammen. Hier beobachten WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus und sein Team auf Monitoren, wie sich das Virus immer weiter vorfrisst. Allerdings ist das SHOC keine Kommandozentrale. Der WHO-Generaldirektor hat keine Befugnisse, den Staaten Anweisungen zu geben.
Was hat die WHO falsch gemacht?
Wichtigstes Kapital der WHO sind Glaubwürdigkeit und Autorität. Durch Ungeschicklichkeiten und Versäumnisse in der Corona-Krise hat die WHO viel von diesem Kapital eingebüßt. Beispiele sind irritierende Aussagen von WHO-Funktionären zum Maskentragen und das tagelange Zögern Ende Januar, einen internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen. US-Präsident Trump bezichtigt die WHO, als „PR-Agentur“für China zu dienen und die Welt nicht früh genug vor dem Virus gewarnt zu haben. Er setzte die US-Zahlungen an die WHO aus. In der Tat überschüttete WHO-Chef Tedros China lange mit Lob. Noch Ende Januar versicherte der frühere Außen- und Gesundheitsminister aus Äthiopien: „China setzt derzeit neue Maßstäbe bei der Reaktion auf einen Ausbruch.“Schon damals kamen starke Zweifel an der Corona-Politik Chinas auf.
Als ein großer WHO-Fehler gilt der lang geltende Ratschlag an die Mitgliedsländer, den Reiseverkehr und den Warenaustausch mit China aufrechtzuerhalten. Das lag im wirtschaftlichen Interesse Chinas. Noch am 29. Februar empfahl die WHO, keine Beschränkungen einzuführen.
Darf Taiwan an der Weltgesundheitsversammlung teilnehmen?
Das WHO-Nichtmitglied Taiwan riegelte seine Grenzen am 7. Februar für Ausländer ab, die sich vorher 14 Tage in China aufgehalten hatten. Dadurch und durch andere strikte Maßnahmen erzielte die Insel im Kampf gegen Corona beachtliche Erfolge. Voraussichtlich darf Taiwan aber nicht einmal als Beobachter an der Weltgesundheitsversammlung teilnehmen – auf Druck der Regierung in Peking, die Taiwan als Teil Chinas betrachtet. Tedros, dessen persönliches Verhältnis zu Taiwan als zerrüttet gilt, folgt der Linie Pekings.
„Taiwan bietet der Welt seine Hilfe an und möchte an der internationalen Kooperation gegen die Ausbreitung der Covid-19-Epidemie teilnehmen“, sagt der FDP-Bundestagsabgeordnete Ulrich Lechte und verlangt die Teilnahme der Taiwanesen an der Weltgesundheitsversammlung. Auch der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, fordert eine Einbeziehung Taiwans.
Wie beurteilen Experten die WHO?
David P. Fidler vom Council on Foreign Relations Urteil fällt klar aus: Die WHO habe durch den Schmusekurs gegenüber China „ihre Neutralität untergraben“. Und durch die Pro-China-Politik habe die WHO den impulsiven US-Präsidenten Trump gereizt. „Sogar in normalen Zeiten verfügt die WHO über einen begrenzten Spielraum, um zwischen den widerstreitenden Interessen der Mitgliedstaaten zu manövrieren“, analysiert Fidler. „Diese Pandemie ist zu einem politischen Desaster für die WHO geworden.“
Genauso schwer wiegt der Vorwurf der Kopflosigkeit. „Die WHO verfolgt keine klare übergeordnete Strategie im Kampf gegen die Pandemie“, bilanziert Jeremy Youde von der University of Minnesota Duluth, USA. Es mangele an klar vorgegeben Zielen und Wegen, wie sie erreicht werden können: „Das ist das größte Versagen der WHO.“
Wie reagiert Tedros auf die Kritik?
Tedros beharrt darauf, dass die WHO seit Anfang Januar die „Alarmglocke laut und klar geschlagen hat“. Als seine Organisation am 30. Januar den internationalen Gesundheitsnotstand ausrief, gab es laut Tedros außerhalb Chinas nur rund 80 bestätigte Corona-Fälle und keinen Toten. Tedros verweist auch auf den 11. März, als er den Ausbruch zur Pandemie erklärte. Er prangerte seinerzeit ein „alarmierendes Ausmaß des Nichtstuns“vieler Staaten an.
Muss Tedros gehen?
Angesichts der Fehltritte des seit 2017 amtierenden Generaldirektors könnten WHO-Mitgliedsländer auf der Weltgesundheitsversammlung versucht sein, seinen Rücktritt zu fordern. Die AIDS Healthcare Foundation (AHF) aus den USA, nach eigenen Angaben weltweit die größte Hilfsorganisation gegen Aids, ruft die Mitgliedsländer offen dazu auf, Tedros abzusetzen. Einen temporären Nachfolger präsentiert die AHF auch: Der frühere US-Präsident Barack Obama solle für ein Jahr lang die WHO durch die Krise steuern.