Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Solidarität und Eigeninteresse
Europäische Milliardenkredite für die Erholung der Wirtschaft – Welche Chancen der deutsch-französische Plan hat
BRÜSSEL - Ohne Deutschland und Frankreich, die beiden größten Mitgliedsstaaten, läuft nichts in der Europäischen Union. Mehrfach in den vergangenen Monaten schien der deutsch-französische Motor stotternd wieder anzuspringen. Doch sowohl bei der Idee von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, ein eigenes Budget für die Eurozone aufzulegen, als auch beim Thema Corona-Bonds ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den französischen Präsidenten dann doch im Regen stehen.
Angesichts der erwarteten schwersten wirtschaftlichen Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die beiden Politiker aber nun zu einem kühnen gemeinsamen Vorstoß entschlossen. Eine Woche bevor die EU-Kommission den wegen der Krise überarbeiteten Haushaltsentwurf präsentiert, preschen sie mit ihrer Idee eines „Fonds zur wirtschaftlichen Erholung“vor. Er soll, mit sehr langer Laufzeit kreditfinanziert, 500 Milliarden Euro schwer sein und die gravierendsten Folgen des Wirtschaftseinbruchs abfedern. Für Deutschland hat Merkel damit eine spektakuläre politische Wende hingelegt.
Worin besteht Merkels Wende?
Noch vor wenigen Wochen stemmte sich die Kanzlerin vehement gegen eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme. Was jetzt geplant ist, unterscheidet sich zwar etwas vom in Deutschland verpönten Konzept der Corona-Bonds. Dennoch geht der deutsch-französische Vorschlag weiter als je zuvor: Die EU-Kommission soll in die Lage versetzt werden, 500 Milliarden Euro über Anleihen am Kapitalmarkt aufzunehmen und dieses kreditfinanzierte Geld über den EU-Haushalt als Zuwendungen für Investitionen in Krisenregionen der EU auszuzahlen.
Im Ergebnis bedeutet das: europäische Schulden, die gemeinsam abgezahlt werden müssen. Deutschland bekommt aller Wahrscheinlichkeit nach kaum etwas von den Krisenhilfen, begleicht aber die Schulten den über künftige EU-Haushalte zum Großteil mit – immerhin beträgt Deutschlands Beitrag zum EU-Haushalt rund 27 Prozent. Nach dieser Rechnung müsste die Bundesrepublik langfristig 135 Milliarden des 500 Milliarden schweren Pakets schultern. Es ist eine Umverteilung in einem bisher ungekannten Maß.
Warum macht Merkel das?
Dahinter stehen handfeste wirtschaftliche Interessen, aber auch die Sorge um den Zusammenhalt der EU. Südländer wie Italien oder Spanien werfen Deutschland in der Corona-Krise mangelnde Solidarität vor – und dort lauern Rechtspopulis
nur auf eine Schwäche Europas. Zudem befürchtet die Kanzlerin, dass China und Russland Einfluss in Osteuropa gewinnen könnten.
Europa ist für die Exportnation Deutschland zudem der wichtigste Handelspartner. Wenn die europäischen Partnerländer wirtschaftlich nicht wieder auf die Beine kommen, würde das deutschen Unternehmen massiv schaden. Denn in der Krise hat sich die wirtschaftliche Schieflage in Europa verstärkt, wie sich an nationalen Krisenhilfen zeigt: Das finanziell starke Deutschland hat mehr Geld in die eigene Wirtschaft gepumpt als alle anderen EU-Staaten zusammen – etliche Partner können sich die Finanzspritzen schlicht nicht leisten. Ihnen soll über das europäische Programm geholfen werden. Das Prinzip heißt Solidarität. Und eben auch: Erhalt von Absatzmärkten.
Hat der Plan Chancen?
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz meldete sofort Bedenken an, und zwar die, die Deutschland vor Kurzem ebenfalls vorbrachte: Kreditfinanziertes Geld dürfe nicht über Brüssel als Zuschuss verteilt werden, sondern höchstens ebenfalls als Kredit. Er kündigte einen Gegenentwurf mehrerer Länder zum deutschfranzösischen Plan an. „Wir glauben, dass es möglich ist, die europäische Wirtschaft anzukurbeln und dennoch eine Vergemeinschaftung der Schulden zu vermeiden“, sagte Kurz am Dienstag den „Oberösterreichischen Nachrichten“. Das Gegenpapier solle „in den nächsten Tagen“vorgelegt werden. Österreich sei in Abstimmung mit den Niederlanden, Dänemark und Schweden.
Das Echo aus den mutmaßlichen Empfängerländern wie Italien fiel freundlicher aus nach dem Motto: guter Ansatz, aber vielleicht zu wenig Geld.
Die osteuropäischen Kollegen bearbeitete Merkel am Dienstag in einer Telefonschalte. Ihnen dürfte gefallen, dass die 500 Milliarden Euro über zwei oder drei Jahre verteilt auf den normalen EU-Haushalt draufgesattelt werden sollen, statt Hilfsgelder etwa durch Kürzungen bei Agrar- oder Strukturfonds freizubekommen. Klar ist: Der deutsch-französische Plan ist nur ein Ausgangspunkt, offiziell wartet man nun auf den Vorschlag der EU-Kommission am 27. Mai.
Bleibt es ein einmaliger Vorgang – oder droht ein Dammbruch?
Merkel nannte das Paket eine „außergewöhnliche, einmalige Kraftanstrengung“. Aber ob der neue Ansatz für Gemeinschaftsschulden tatsächlich einmalig bleibt, kann heute niemand sagen. Denn Merkel sagte am Montagabend auch klar, was sie nun schon ein paarmal angedeutet hat: Sie will mehr Europa, und der deutsch-französische Plan ist eine Art Grundstein. Bei der ohnehin geplanten Zukunftskonferenz müsse man darüber ernsthaft sprechen. „Das kann auch Vertragsveränderungen einschließen; das kann ein sehr viel engeres Zusammenrücken einschließen“, sagte die Kanzlerin.
Wird der Bundestag zustimmen?
Die Finanzexperten der Unionsfraktion haben sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich positiv geäußert, ebenso SPD, Grüne und Linkspartei. Die AfD dürfte dagegen sein. Doch wie der Bundestag im Herbst oder Winter abstimmt, wird davon abhängen, wie das Paket nach den anstehenden Brüsseler Verhandlungen tatsächlich aussieht.