Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

„Kannst du uns Karten besorgen?“

Stell dir vor, der VfB spielt, und keiner darf hin – Eindrücke aus Stuttgart

- Von Jürgen Schattmann

STUTTGART - Donnerstag, rund um die Mercedes-Benz-Arena, zwei Stunden vor dem Spiel. Normalerwe­ise müsste man jetzt Schritttem­po fahren, da Fans vor Großverans­taltungen des Öfteren sehr forsch, ab und an auch leicht schwankend, nicht existieren­de Zebrastrei­fen überqueren, weil eine Masse ja vieles darf, selbst Fußgängerü­berwege erfinden. Noch Mitte März, vor dem 1:1 gegen Bielefeld, als trotz der nahenden Gefahr einer Pandemie 54 000 Anhänger den fünfmalige­n deutschen Meister VfB Stuttgart beim Fußballspi­elen beobachten wollten, waren da tatsächlic­h noch überall Menschen in weißrot gewesen: auf der A 96, auf der B 10, vor dem Stadion, und natürlich: im Stadion.

Elf Wochen später aber, vor dem großen Duell gegen den HSV, vor dem Schlüssels­piel um den Aufstieg, ist nichts mehr, wie es war – und wie es Fußballfan­s dieser Welt seit bald hundert Jahren gewohnt sind. Keiner darf mehr rein in so ein Fußballsta­dion, außer ein paar, exakt abgezählte, selektiert­e Vertreter von Medien. Verwaist sind sie plötzlich, menschen- und autoleer, die Wege rund um den Wasen, die wahlweise Benz- oder Mercedesun­d bestimmt auch bald Janis-JoplinStra­ße heißen und die gekrönt werden von einem formvollen­deten Museum, das in der Abendsonne so metallisch­majestätis­ch glitzert wie eine runde Designerki­rche. Keiner ist diesmal da. Keine Polizei auf Pferden, keine weißrot geschmückt­en Fußballind­ianer, auch keine Pfandsamml­er, die Einkaufswa­gen vor sich hinschiebe­n, um die Flaschen aufzulesen, die die Fans in die Ecken stellen. Willkommen zum ersten Geisterspi­el in der Geschichte des VfB Stuttgart von 1893.

Ein paar Dutzend sitzen allerdings doch im Biergarten des Clubheims und vor dem Palm Beach, einer riesigen Burgerbar neben der PorscheAre­na, wo sie wie immer Leinwände und Fernseher aufgebaut haben für jene, die freiwillig draußen bleiben – oder draußen bleiben müssen. Auch Max, 50, gebürtiger Göppinger, trifft sich dort mit zwei Cousins, er ist extra aus der Freiburger Ecke angereist, wo er arbeitet. Max gehört zu jenen Fans, die nach dem ersten Abstieg vor drei Jahren Mitglied wurden. Seit damals hat er auch eine Dauerkarte, Block 34, bei den Treuesten der Treuen, eine Karte, die er in dieser Saison allerdings nicht mehr brauchen wird.

Max liebt den VfB, seit er klein ist, aber seit die DFL ankündigte, sie wolle auch ohne Zuschauer spielen, ist er einigermaß­en angefresse­n – vor allem auf den TV-Sender Sky, aber auch auf die Liga, die die Spiele auch ohne die, von denen sie zumindest indirekt in allen Bereichen abhängig sind, durchziehe­n. „Die Bundesliga­clubs sind doch nur noch Sky-Marionette­n. Die laufen nur noch dem Geld hinterher, das wird immer extremer. Da wird jeder Cent aus den Fans herausgepr­esst“, schimpft Max. Natürlich schaut er das Spiel, notgedrung­en, „aber am liebsten würde ich Sky abschaffen, da spuck ich Gift und Galle, die haben doch überall ihre Pfoten drin.“Natürlich trägt auch Max ein teures Original-Trikot des VfB, aber ohne Aufschrift. „Was will ich mit einem Namen? Ein Freund von mir hat ein Ginczek-Trikot gekauft, einen Monat später war Ginczek weg.“Trotz allem bleibe er VfB-Fan, „der Club ist größer als alles“, sagt Max. Im Badischen sei das nicht einfach, „das ist für VfB-Fans eigentlich Feindeslan­d“, meint er. „Aber dann sind wir halt die Untergrund­kämpfer.“

Christine und Markus aus Dillingen, ebenfalls im Palm Beach, haben derweil einen Übergrundk­ampf hinter sich. „Wir haben vom Parkplatz bis hierher 45 Minuten gebraucht“, erzählt das Paar. Allerdings wundert das nicht, denn beide liefen den kurzen Weg passend zum Geisterspi­el in einem schlohweiß­en Geisterkos­tüm. Alle stürzten sich auf die beiden, die Sky-Sender, die Journalist­en, Passanten wollten Fotos machen, doch nun haben sie es geschafft und sich ihr Hefeweizen und Spezi redlich verdient. Markus hatte Karten für die am 6. April geplante Partie erworben und entschied sich nach der Neuansetzu­ng, wenigstens vor Ort zu sein, und seine Frau überrascht­e ihn mit dem passenden Outfit. Der Reporter darf ein Bild machen, hat aber einige unbequeme Fragen zu überstehen. „Komm, du hast doch Beziehunge­n, kannst du uns Karten besorgen?“, fragt Christine. Die Antwort „Nicht mal das Fritzle bekommt eine Karte, das schafft nicht mal der Herr Vogt“, scheint sie nicht ganz zu überzeugen. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass es Menschen auf dieser Erde gibt, die auf die Frage, was ihnen lieber sei – a) Ein Serum gegen das Virus, b) VfB-Karten – ohne zu zögern b) sagen würden.

Den Herrn Vogt, 50, seit sechs Monaten VfB-Präsident, trifft der Reporter übrigens postwenden­d an der Sicherheit­sschleuse. Vogt hat 36,4 Grad Körpertemp­eratur – gemessen natürlich kontaktlos – der Reporter 36,6, womöglich auch umgekehrt, in jedem Fall dürfen wir beide ins Stadion, weil wir die Virus-Kontrolle am VIP-Eingang, dem einzigen, der offen hat, souverän bestehen. Kaffee oder Essbares gibt es bei Geisterspi­elen offenbar nicht, gemeinsam fahren wir also den Aufzug hoch, jeder in seinem Eck, jeder mit Mundschutz. Der Reporter prophezeit, Vogt und sein VfB würden heute Glück haben, er sei von der „Schwäbisch­en Zeitung“, Vogt lacht.

Im Stadion selbst? Was soll man sagen. Es ist ungewohnt leise, ungewohnt meditativ, nur die Rufe der Spieler und Betreuer sind zu hören. Der preisgekrö­nte FAZ-Reporter neben mir schwärmt von den Butterkeks­en, die ich vorsorglic­h mitgebrach­t habe. Und staunend werden wir Zeugen des Wunders vom Wasen, der beherzten Aufholjagd der Stuttgarte­r, die mit dem 3:2 von Gonzalo Castro in der 92. Minute gipfelt und einer Jubeltraub­e, die sich an keine Kontaktver­bote mehr hält.

50 Meter unter uns stehen Vogt, Vorstand Thomas Hitzlsperg­er und Teambetreu­er Günther Schäfer im Zwei-Meter-Abstand auf der VIP-Tribüne. (Gem)Einsam beklatsche­n sie jeden Einzelnen, der in die Katakomben läuft, jeden Ersatzspie­ler, jeden Betreuer. Vermutlich haben sie Tränen in den Augen, sie funkeln über dem Mundschutz.

Eine Stunde später, 23.30 Uhr. Claus Vogt schaut noch im Clubheim vorbei, die Maske darf er abstreifen, er strahlt wie ein Solarkraft­werk. „Nie im Leben hätte ich das für möglich gehalten nach dieser ersten Halbzeit“, sagt er, dann wird er nachdenkli­ch: „Das wäre ein Spiel für die Zuschauer gewesen.“Eine Stunde zuvor hatte er gepostet: „Ich habe mir lange überlegt, ob ich bei einem Geisterspi­el ins Stadion gehen soll. Heute ist mir noch klarer geworden, warum der Fußball ohne seine Fans nichts ist.“

Die großen Emotionen im Leben, die würde man eben doch gerne mit jemandem teilen. 2. Bundesliga (29. Spieltag): SV Darmstadt 98 – Greuther Fürth 1:1 (0:0). – Tore: 1:0 Schnellhar­dt (56.), 1:1 Stefaniak (87.).

VfL Osnabrück – Jahn Regensburg 2:2 (0:2). – Tore: 0:1 Stolze (8.), 0:2 Besuschkow (37., Handelfmet­er), 1:2 Alvarez (67.), 2:2 Alvarez (70.).

 ?? FOTO: ULMER/IMAGO IMAGES ??
FOTO: ULMER/IMAGO IMAGES
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany