Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Massenhaftes Tiersterben bei Halbinsel Kamtschatka
Russland kämpft mit den Folgen einer neuen Umweltkatastrophe – deren Ursache ist noch unklar
PETROPAWLOWSK-KAMTSCHATSKI (dpa) - Wo normalerweise Surfer ins Meer gleiten, ist der Strand mit toten Seesternen, Fischen, Kraken und Robben übersät. Wohin das Auge reicht. Russland kämpft seit Tagen mit den Folgen einer neuen Umweltkatastrophe, deren Ausmaß sich nur langsam abzeichnet. Massenhaft sind Meerestiere verendet. Tierschützer berichten von einem gelblichen Schaum auf dem Wasser. Was genau im Ozean vor der Halbinsel Kamtschatka im Osten des Riesenreichs passierte, ist noch unklar. Doch die russischen Behörden versuchen wie so oft in solchen Fällen, das Ausmaß für Mensch und Umwelt herunterzuspielen.
Nicht zuletzt deshalb wird wild über die Gründe spekuliert: von Algen, die sich massenhaft vermehrt hätten, über einen Vulkan bis hin zum Test einer Hyperschallrakete. Aber auch Schiffe gelten als mögliche Verursacher. Die regionalen Behörden nahmen Wasserproben und erklärten danach, dass die Konzentration an Ölprodukten zeitweise um das Vierfache und die von Phenol um mehr als das Zweifache gestiegen sei. Umgehend ließ die russische Marine mitteilen, dass Schiffe der Pazifikflotte nicht für die Umweltschäden verantwortlich seien.
Das Problem ist: Selbst Proben von Wasser, Strand, Tieren und Mikroorganismen gaben bislang keinen Aufschluss über die Hintergründe für das Tiersterben. Fest steht aber: „Taucher berichteten, dass in zehn bis 15 Metern Tiefe bis zu 95 Prozent der Tiere tot waren“, sagte Gouverneur Wladimir Solodow vor wenigen Tagen zu dem Massensterben in der Bucht vor der Regionalhauptstadt
Petropawlowsk-Kamtschatski. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace spricht von einer ökologischen Katastrophe. Um einen Überblick über das Ausmaß zu bekommen, ist seit dem Wochenende ein Schiff mit Wissenschaftlern an der Südseite von Kamtschatka unterwegs.
Die Küsten sind vor allem bei Surfern beliebt. Sie waren es, die Mitte September bemerkt haben, dass sich die Farbe des Wassers veränderte. Surfer klagten über Übelkeit und Sehverlust. Mehr als 200 Menschen sollen mit dem verschmutzten Wasser in Kontakt gekommen und danach krank geworden sein. Den Behörden zufolge haben mehr als zehn von ihnen Hilfe bei Ärzten gesucht. Die Mediziner diagnostizierten eine Verätzung der Hornhaut.
„Es gab viele Diskussionen über die Militärübungen vor etwa einem Monat an den Küsten. Ob alles glatt gelaufen ist oder nicht, wissen wir nicht“, meint Tauchlehrer Anton Morosow. Immer wieder hatte das russische Militär neuartige Raketen auf der Halbinsel getestet.
Die Hauptversion der Behörden für die Verschmutzung sind mikroskopisch kleine Algen, die Giftstoffe produzieren und deshalb für den Tod Hunderter Meerestiere verantwortlich sind. Russlands Umweltminister Dmitri Kobylkin behauptete in der vergangenen Woche: „Es gibt keine Katastrophe. Niemand ist gestorben oder verletzt worden.“Die Umweltschützer von WWF sehen das völlig anders: Zu Wochenbeginn seien an noch mehr Stellen tote Meerestiere gefunden worden. Sie dringen nun darauf, dass schnell geklärt wird, warum beispielsweise toten Seeigeln Stachel ausgefallen sind. Gouverneur Solodow hat bereits um internationale Hilfe gebeten.