Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Widerspruch muss möglich sein
In den nächsten Tagen werden wir die Zahl 10 000 erreichen. Entweder überschreitet die Zahl der Neuinfektionen innerhalb eines Tages erstmals diese Marke – oder aber die Zahl der Corona-Toten. Zwar hat die 10 000 keine inhaltliche Relevanz, aber sie stellt doch psychologisch einen Einschnitt dar. Das Problem der Politik wird sein, dass sie darauf nur begrenzt reagieren kann. Schon jetzt ist die Angst vor Kontrollverlust deutlich zu spüren.
Der Anfang der Krise hat gezeigt, welch große Macht die politischen Akteure entfalten können, haben sie die Zustimmung der Bürger hinter sich. Manch einer dürfte erschrocken sein, wie in nur wenigen Stunden eine der größten Volkswirtschaften der Welt für Wochen auf Halbschlaf runtergeregelt wurde. Der Plan hatte Erfolg, und dann kam noch das Glück des guten Wetters hinzu. Jedenfalls sanken die Zahlen, und die Bevölkerung war den Regierenden dankbar, dass ihnen Bilder wie aus Bergamo erspart blieben.
Die aktuelle Phase der Krise zeigt das glatte Gegenteil, nämlich wie ohnmächtig die politischen Akteure sind. Natürlich wissen sie, dass ein neuer Shutdown die Infektionszahlen wieder nach unten drückt, doch halten sie den dadurch eintretenden Begleitschaden für zu groß. Welche weniger einschneidenden Maßnahmen Erfolg versprechen, weiß keiner mit Sicherheit. Das zeigen die aktuellen Beschlüsse deutlich. Die begleitende Kommunikation zeigt darüber hinaus, dass die Verantwortlichen sich der Unterstützung der Bürger nicht mehr völlig sicher sind.
Was ist, wenn die Leute sich nicht mehr an das halten, was die Politik an Corona-Maßnahmen beschließt? Wäre eine solche Machtprobe zu gewinnen? Nein. Es ist höchste Zeit für einen Strategiewechsel. Und der kann nur gelingen mit einer ehrlichen Ansprache an die Bürger. Ständiges Angstmachen à la Markus Söder und Karl Lauterbach hilft da nicht, auch kein samstäglicher Podcast. Notwendig ist ein ernsthafter Dialog mit der Bevölkerung auf Augenhöhe – also mit der Möglichkeit auf Widerspruch: im Fernsehen, in den Zeitungen und im Bundestag.