Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Tod eines Kämpfers
Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann ist unerwartet im Alter von 66 Jahren verstorben
Als Thomas Oppermann und Volker Kauder, die beiden Fraktionsvorsitzenden von SPD und Union in den Jahren 2013 bis 2017, nach dem Ende jener Wahlperiode in einem gemeinsamen Interview die Bilanz ihrer Zusammenarbeit in der Großen Koalition zogen, wurden sie gefragt: „Was wird Ihnen persönlich bleiben, wenn Sie mit 90 auf Ihre Jahre an der Spitze einer Bundestagsfraktion zurückblicken?“Oppermanns Antwort begann zunächst mit einem Konditionalsatz: „Wenn mir so viel Zeit gegeben ist.“Falls das so sein sollte, fuhr er fort, werde er sich „mit Demut und Dankbarkeit“an ein Amt erinnern, „in dem man ganz tiefe Einblicke nehmen kann ins Große wie ins Kleine“.
Nun ist es Thomas Oppermann nicht vergönnt, noch viele Jahre auf seine politische Karriere zurückblicken zu können, die nach eigenem Entschluss im Herbst 2021 nach drei Jahrzehnten als Abgeordneter erst im niedersächsischen Landtag, dann im Bundestag enden sollte. Schon seinen geordneten Rückzug aus der Politik in weniger als einem Jahr wird er nicht mehr erleben, nachdem er am Sonntagabend so überraschend gestorben ist, mit 66 Jahren herausgerissen aus einem prall ausgefüllten Alltag als Bundestagsvizepräsident, SPD-Parlamentarier und Vater vierer Kinder.
Es fällt schwer, den Tod dieses immer so viel jünger anmutenden Mannes an der Schwelle zum Ruhestand zu begreifen. Thomas Oppermann war sportlich, er spielte lange Jahre in der Fußballelf des Bundestages eine aktive Rolle, er war Ausdauerläufer, Hobby-Basketballer und ein passionierter Wanderer. In allen Sommerferien brach er mit einer Gruppe von Freunden, darunter der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, zu anspruchsvollen Bergtouren auf, und wie viel Spaß bereitete es dem damaligen Fraktionschef, wenn er Journalisten einlud, ihn auf den Brocken zu begleiten, den 1141 Meter hohen Berg im Harz – für ungeübte Spaziergänger eine Herausforderung, aber für den drahtigen Oppermann, der beim stundenlangen Anstieg locker Interviews für Radioreporter gab, kein Problem.
Ja, die Zeit an der SPD-Fraktionsspitze hat er genossen, obwohl dieses Amt nur das zweitschönste für ihn gewesen ist. Seinen Traum, Bundesinnenminister zu werden, hat der Jurist und Ex-Verwaltungsrichter dagegen nicht verwirklichen können, es blieb bei der Nominierung zum SchattenInnenminister im Team von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück 2013. Dennoch erscheint es mehr als respektabel, dass er sich trotz nahezu erdrückender Konkurrenz in seinem angestammten Landesverband – Gerhard Schröder, Peter Struck, Sigmar Gabriel, Stephan Weil – zu behaupten wusste, ob als Wissenschaftsminister in Hannover, als Erster Parlamentarischer
Geschäftsführer und Chef der SPD-Bundestagsfraktion oder zuletzt als Vizepräsident des Hohen Hauses.
Oppermann war eben nicht bloß ein Politiker, der sich geschliffen auszudrücken verstand, der sich in Fragen von Bildung und Kultur zu Hause fühlte und der seinen Ehrgeiz nicht verbarg, was ihm das Leben unter Genossen nicht eben leicht machte, sondern auch ein Kämpfer mit langem
Atem. Sein Weg zu einem Studienabschluss mit Prädikat in Göttingen verlief nicht ohne Rückschläge. Zweimal musst er ein Schuljahr wiederholen, sein erstes Studium in Tübingen (Germanistik/Anglistik) brach der Sohn eines Molkereimeisters aus dem Münsterland ab. Dann reifte er bei einem freiwilligen Aufenthalt für die Aktion Sühnezeichen in den USA und fortan nahm er alle akademischen Hürden im Eiltempo.
Das Image des ambitionierten Aufsteigers haftete Oppermann seit seinem Start in der niedersächsischen Landespolitik an. Gerhard Schröder berief ihn in sein Kabinett, und manche konnten sich den bekennenden Pragmatiker, der mit seinem Chef den Willen zur Macht und zum Regieren teilte, durchaus als künftigen Ministerpräsidenten vorstellen. Es kam anders, aber für Oppermann nach dem Wechsel in die Bundespolitik auch nicht viel schlechter. „Wir haben“, so resümierte der Sozialdemokrat in dem gemeinsamen Interview mit seinem Duzfreund Volker Kauder, „enorme Gestaltungsmöglichkeiten – und wenn man gute Lösungen findet im Einklang mit dem Gemeinwohl, erfüllt einen das mit tiefer Befriedigung.“Das klang vor gut zwei Jahren fast schon wie ein Vermächtnis.