Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Pflegekräfte wollen mehr als Applaus
Tarifvertrag soll bessere Arbeitsbedingungen und faire Löhne sichern – Woran es noch hakt
BERLIN - Applaus allein reicht den Pflegekräften in Deutschland längst nicht mehr: Sie wollen angemessene Arbeitszeiten und Bezahlung. Ein allgemeingültiger Tarifvertrag soll helfen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche BVAP haben einen Vorschlag ausgearbeitet. Die Frage ist nun: Wer im Pflegebereich wird sich dafür erwärmen?
Die Misere war im Frühjahr nicht mehr zu übersehen. Fehlten bis dahin in der Altenpflege schon Fachkräfte, spitzte die Corona-Krise die Situation in Alten- und Pflegeheimen noch einmal zu. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte an, Abhilfe zu schaffen: mit einer finanziellen Aufwertung der Pflegearbeit und einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für die Branche, der Dumpinglöhne ausschließen soll.
Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie zählen mit rund 40 Prozent zu den großen Anbietern im Bereich der Altenpflege. Ihre tarifrechtlichen Angelegenheiten regeln sie selbst. Das Grundgesetz garantiert Kirchen das Recht auf Selbstorganisation. Kirchliche Arbeitgeber kennen weder Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, noch ein Streikrecht. In den 1970er-Jahren entwickelte sich daraus der „Dritte Weg“.
Er sei eine Konsequenz aus der Nachkriegszeit und der Erfahrung zweier Diktaturen, sagt der Wirtschaftsethiker und Professor für evangelische Theologie an der RuhrUniversität Bochum, Traugott Jähnichen. In der NS-Zeit und später auch in der DDR habe die Politik versucht, auf Einrichtungen der Diakonie Einfluss zu nehmen. Solche Eingriffe wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes fortan ausschließen.
Deshalb gibt es bei den kirchlichen Arbeitgebern nun den Begriff der „Dienstgemeinschaft“. Er steht für einen Ausgleich der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Konsens, hat aber auch eine privatrechtliche Dimension. An Beschäftigte in kirchlichen Kindergärten, Heimen und Kliniken wurden Ansprüche auch in Bezug auf die persönliche Lebensführung gestellt; auf katholischer Seite strenger als auf evangelischer. Diese Eingriffe wurden durch Gerichte zuletzt in Schranken gewiesen.
Für die Beschäftigten in Einrichtungen der Kirchen war der Sonderweg nicht unbedingt von Nachteil. In kirchlichen Einrichtungen ist der Verdienst meist höher, wenngleich, wie Norbert Beyer, Referatsleiter Arbeitsrecht beim Caritas-Verband, einräumt, es starke Unterschiede zwischen einzelnen Regionen geben könne. Doch: „Der Mindestlohn im Bereich der Pflege spielt für uns keine Rolle“, sagt Beyer. Die Gehälter liegen durchweg darüber, allerdings im Osten Deutschlands weniger stark als im Westen.
Allerdings halten große kirchliche Arbeitgber wie die Stiftung Liebenau mit Sitz in Meckenbeuren den Caritastarif für zu unflexibel. So würden ungelernte Kräfte oft besser bezahlt als anderswo. Es fehle deshlab finanzieller Spielraum, um die knappen Fachkräfte anzuwerben. Letzlich fehle es an Geld der Pflegekassen
und des Staates, um etwa viele kleine Heime zu führen statt weniger großer. Dieses Modell wiederum wünschen sich aber viele Senioren für ihren Lebensabend. Derzeit sind es vor allem sie, die Mehrkosten im Personalbereich mit ihren Monatsbeiträgen für ein Heim finanzieren müssen. Doch der Versuch der Stiftung, aus dem Kirchenrecht auszuscheren, endete im Streit. Der Versuch, einen Tarifvertrag mit Verdi abzuschließen, scheiterte. Nun werden Einrichtungen bestreikt, die Stiftung will als Konsequenz doch zurück in den Kirchentarif.
Einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für die knapp 1,2 Millionen in der Pflege Beschäftigten, wie ihn Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) anstrebt, lehnt der CaritasVerband nicht ab: „Als Caritas haben wir schon ein grundsätzliches Interesse an guten und angemessenen Entgelten in der Pflege.“Welche Auswirkungen ein Altenpflege-Tarifvertrag auf den kirchlichen Sonderweg
haben könnte, wird derzeit geprüft. Beyer vermutet: „Der Dritte Weg wird begrenzt, aber nicht ausgesetzt.“
Für die Beschäftigten erwartet er keine Nachteile. Liege der für Caritas-Beschäftigte gültige AVR-Tarif über künftigen Vorgaben, gelte die für Beschäftigte bessere Regelung. Der Wettbewerb um Pflegekräfte wird im Westen seit Jahren über den Gehaltszettel ausgetragen. Abwerbungen von schlechter zahlenden Einrichtungen sind gang und gäbe. Einzelne Heime, bei denen neben der Entlohnung auch das Arbeitsklima stimmt, führen trotz Pflegenotstand sogar Wartelisten mit Bewerbern.
Die Diakonie will sich zum Vorstoß vorläufig nicht äußern. Wirtschaftsethiker Jähnichen meint jedoch, eine allgemeinverbindliche Regelung habe für alle den Vorteil, dass sie nicht unterboten werden könne, auch nicht von privaten Arbeitgebern. Von dieser Seite werde Druck auf die Kostenträger ausgeübt, der sich oft negativ auf die Lohnentwicklung niederschlägt. Jähnichen: „Ein Flächentarifvertrag wäre eine sinnvolle Weiterentwicklung des Dritten Weges.“
Knapp 60 Prozent der Heime und ambulanten Dienste werden von privaten Arbeitgebern betrieben. Diese lehnen bindende Vorgaben ab. Laut Bundesgesundheitsministerium haben 2018 nur 40 Prozent der Pflegeheime ihre Angestellten nach Tarif bezahlt, bei den ambulanten Pflegediensten seien es 26 Prozent.
Der Mindestlohn in der Altenpflege liegt derzeit bei 11,60 Euro im Westen und 11,20 Euro im Osten Deutschlands. Geht es nach den Plänen von Verdi und BVAP soll das Entgelt zum Juli 2021 um rund zehn Prozent über dem Pflegemindestlohn liegen. In drei Schritten soll der Stundenlohn für Pflegefachkräfte auf 18,50 Euro und für Pflegehelfer auf 14,15 Euro steigen. Auch der Urlaubsanspruch soll sich auf 28 Tage erhöhen.
Kann Arbeitsminister Hubertus Heil den Tarifvertrag einsetzen? Das wäre sehr schwierig. Ich hielte es für besser, wenn wir eine gemeinsame Lösung erarbeiten können. Wenn man eine solche Regelung allgemeinverbindlich erklärt, sollte man die kirchlichen Träger vorher fragen, was sie davon halten.
Bleiben Sie im Zeitplan?
Ich will offen sein für die Vorschläge, aber ich glaube, dass wir es schaffen, den Tarifvertrag zum 1. Juli 2021 umgesetzt zu haben.