Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Tipico-filiale öffnet: Ein Ort mit Suchtgefahr
Tipico hat einen neuen Laden für Sportwetten errichtet – Nicht alle sind begeistert
- Ein Trampelpfad entlang der Fensterfront lässt erahnen: Ein paar Neugierige haben das neue Wettbüro in Neu-ulm schon entdeckt und wollten einen Blick ins Innere erhaschen. Dort stehen die roten Hocker bereit, auch die Monitore hängen bereits an den Wänden. Es hat den Anschein, als könnte die neue Annahmestelle für Sportwetten sofort losgehen. Doch manchem wäre es am liebsten, sie würde gar nie öffnen.
Wer es nicht weiß, dem fällt die Neuheit im Neu-ulmer Industriegebiet vermutlich gar nicht auf. Zwischen Truck Stop Bistro, Raumausstatter und Metro-lager wurde in der Von-liebig-straße ein mausgrauer Gebäudekasten hochgezogen. Lediglich zwei kleine Logos der ersten und zweiten Fußball-bundesliga sowie eine etwas größere Meisterschale deuten darauf hin, dass der Wettanbieter Tipico hier bald Geld verdienen möchte.
Für das Unternehmen mit Hauptsitz auf der Insel Malta wäre es die zweite Niederlassung in Neu-ulm. „Der Standort war verfügbar und wurde uns angeboten“, so ein Firmensprecher. Auf der anderen Donauseite im benachbarten Ulm gibt es aktuell insgesamt sechs Sportwettbüros, fünf davon gehören zum Tipico-konzern.
Bei der in Neu-ulm schon bestehenden Annahmestelle an der Ecke Reuttier Straße/kasernstraße geht in der Zocker-szene derzeit das Gerücht um, dass diese wegen Anwohner-beschwerden dicht gemacht werden soll. Der Neu-ulmer Stadtverwaltung ist hierzu nichts bekannt. Lediglich wegen des Coronalockdowns sei die Filiale derzeit geschlossen. Wie der Tipico-sprecher auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt, soll der Standort erhalten bleiben allerdings verkleinert und mit reduziertem Angebot.
Im Neu-ulmer Industriegebiet sind derweil die Vorbereitungen abgeschlossen. „Wir sind jederzeit startklar. Sobald die aktuellen Corona-regeln es zulassen, werden wir den Shop im Rahmen des Zulässigen eröffnen“, heißt es. Kunden sollen dann dort die Möglichkeit haben, Live-übertragungen von Sportveranstaltungen zu verfolgen, alkoholfreie Getränke zu konsumieren und Wetten abzugeben.
Verena Schneider ist das neue Wettbüro ein Dorn im Auge. Die studierte Sozialpädagogin betreut bei der Diakonie Neu-ulm Glücksspielsüchtige. Zwar würden Zocker ihre Sportwetten immer mehr online abschließen und die Pandemie beschleunige diesen Prozess. Doch noch immer seien die Annahmestellen gut besucht. „Vor Corona waren die immer voll“, sagt sie. „Sportwetten
boomen und werden auch noch weiter boomen.“
Das zeigt allein die Präsenz der Wettanbieter im Sportgeschäft: Oliver Kahn, Ex-torwarttitan und der neue Chef beim FC Bayern, rührte bis vor Kurzem noch kräftig die Werbetrommel für Tipico. In Österreich hat sich der Konzern, der laut einem Bericht von 2018 einen jährlichen Umsatz von mehr als einer halben Milliarde macht, die Namensrechte an der Fußball-bundesliga geholt. Auch in Deutschland treten Wettanbieter bei Bundesligisten als Sponsoren auf unter anderem in Bremen, Dortmund, Mönchengladbach und natürlich beim deutschen Rekordmeister aus München.
Für Schneider und viele ihrer Klienten, die sie wöchentlich betreut, ist diese Entwicklung „komplett unverständlich“: Immer noch mehr Werbung, noch mehr Büros. Auf der anderen Seite aber die schweren Folgen der Spielsucht. Die Sozialarbeiterin fühlt sich in frühere Jahre zurückversetzt, als noch massenhaft Werbung fürs Rauchen gemacht wurde obwohl es tödlich ist.
Laut dem aktuellen Forschungsbericht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) haben Sportwetten „ein erhöhtes Gefahrenrisiko“. Knapp 20 Prozent aller Sportwetter würden demnach ein auffälliges beziehungsweise risikoreiches Spielverhalten aufzeigen. Problematisch werde es vor allem dann, wenn Menschen zum Beispiel Geld am Arbeitsplatz entwenden, um weiter spielen zu können. Auch Betrügereien im Internet seien schon vorgekommen, um an Geld fürs Zocken zu kommen, berichtet Schneider. Doch oft würden Suchtkranke erst im Verhandlungsfall reagieren, wenn man vor dem Richter sitzt oder wenn der Partner sie verlassen hat. Im schlimmsten Fall werde als einziger Ausweg der Suizid gewählt.
Doch ist jeder, der bei einem Fußballspiel auf Sieg oder Niederlage wettet, gleich süchtig oder gar suchtkrank? Bedenklich werde es dann, erklärt Schneider, wenn man beispielsweise mit immer höheren Einsätzen spielt. Eine Abhängigkeit lasse sich auch daran erkennen, dass man unruhig werde oder „negative Gefühle“aufkommen, wenn man mal nicht spielt. Oder wenn das Zocken im Leben einen großen Stellenwert einnimmt: Wenn man lieber im Wettbüro sitzt, als sich mit Freuden trifft und dafür auch Lügen in Kauf nimmt.
Wie viele Glücksspielsüchtige es im Landkreis Neu-ulm gibt, sei schwer zu sagen. Um die 60 Klienten wurden im vergangenen Jahr von der Beratungsstelle der Diakonie betreut. Die Dunkelziffer aber sei hoch. „Zu uns kommen sie erst, wenn es ganz arg brennt“, so Schneider.