Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Quarantäne-alarm im Hotel Papa
Sz-redakteur Reiner Schick und seine Kinder haben eine ganz spezielle Erfahrung mit der Corona-pandemie gemacht
- Es ist ein kleiner Dialog mit großer Bedeutung. „Papa, warum darf ich nicht in den Kindergarten?“, fragt mich mein vierjähriger Sohn beim Frühstück. Ich versuche, es ihm zu erklären: „Also: In der Schulklasse deines Bruders hat jemand Corona. Und weil es sein könnte, dass er sich angesteckt hat, muss er zu Hause bleiben. Und weil es sein könnte, dass er, wenn er sich angesteckt hat, auch uns anstecken könnte, müssen auch wir zu Hause bleiben, weil es sein könnte, dass sonst wir .... “. Vergiss es, denk ich mir. Wie sollen Kinder kapieren, was schon Erwachsene kaum nachvollziehen können?
Meine Schwiegermutter sitzt kopfschüttelnd mit Maske im Treppenhaus, als sie uns nur Minuten nach dem Anruf des Gesundheitsamts nichtsahnend besuchen will und ich ihr den Zutritt in die Wohnung verwehren muss. Die Jungs weinen gleichzeitig im Flur, nachdem ich ihnen erklären musste, dass sie eine Woche lang nicht aus der Wohnung dürfen und niemand zu uns kommen darf. Weder Oma noch die Haushaltshilfe, die uns ebenfalls unterstützen sollte. Keine Schulkameraden und Freunde. Niemand. Auch mir ist in diesem unvergesslichen Moment zum Heulen, doch stattdessen tröste ich die Kleinen. „Was für ein großartiges Timing“, denke ich mir dabei – und wähne mich im falschen Film.
Der Titel der mehrteiligen Groteske: „Die Absonderung – Quarantäne-alarm im Hotel Papa“.
Regie führt der Wahnsinn, Drehpausen sind nicht geplant. Nun ist es beileibe nicht so, dass meine Jungs unzähmbare Rabauken wären und sich für eine Hauptrolle in „Die Kleinen Strolche“qualifizieren. Aber es sind halt ganz normale Kinder, die gefühlt den ganzen Tag quasseln, Kinderreime singen, in Dauerschleife den Eiskönigin-soundtrack oder andere Lieblingsmusik (Abba!) in Wohnungslautstärke hören. Die aber auch mit dem Papa spielen oder Hilfe bei den Schulaufgaben wollen und einen Dickkopf haben. Und ihre eigene innere Uhr: Diese treibt den Kleinen leider schon um 7 Uhr aus den Federn und den Großen kaum vor 22 Uhr in den Schlaf.
Dazwischen liegen 15 Stunden Unterhaltungsprogramm, mal Drama, mal Komödie. Männer lieben doch Herausforderungen, fällt mir ein – und so betrachte ich das Ganze fortan als 24/7-Quarantäne-challenge. Zwar ist’s ein Segen, einen Grundschüler zu haben, der das Homeschooling weitgehend selbstständig meistert, die Betreuung des kleineren Bruders als persönliche Challenge sieht und sich ganz rührend um ihn kümmert. Zum Fluch wird die Geschwisterliebe aber dann, wenn das Miteinander allzu albern wird, das Durch-die-wohnung-rennen unmittelbar zur Beule und die Meinungsverschiedenheit nicht selten zu Tränen führt.
So sehne ich jeden Vormittag das 12-Uhr-läuten herbei. Da nämlich startet das mittägliche Fernsehkurzprogramm für die Kinder – und ein bisschen Siesta für den Papa? Denkste. Nun ist Kochen nicht gerade meine Leidenschaft, doch mangels Schwiegermutter und Haushaltshilfe kann ich mich diesem zweifelhaften Vergnügen nicht verweigern. Immerhin: Mithilfe der Kinderlektüren „Die Maus – mein erstes Kochbuch“und „Findet Dorie – erste Rezepte“gelingen mir angungslisten. spruchsvolle Gerichte wie Würstchen-nudel-suppe oder Meeresrührei so passabel, dass die Kleinen zumindest nicht meckern. Spätestens bei den Pfannkuchen wird mir aber klar: Die Schwiegermutter hätte ihren vorgefertigten Teig besser selbst gebacken.
Da sie keinen Zutritt hat, bleibt ihr nur eine wichtige Nebenrolle in unserem Quarantäne-projekt: Fast täglich schreibe ich Einkaufslisten, die ich ihr per Whatsapp schicke. Das klappt bestens, „Lieferandoma“ist schnell und zuverlässig. Die kurzen Treffen an der Haustür, mit Abstand und Maske, wirken jedoch so befremdlich wie eine Szene aus einem Science-fiction-film.
Neben dem funktionierenden Bestellservice erfreuen auch Hilfslieferungen von Freunden – vom Frühstücksservice über selbst gebackene Plätzle und frischen Eiern bis hin zu Klopapier – unsere kleine Männerwg. Was auffällt: Es sind ausschließlich Frauen, die an uns denken. Es liegt an meinem Charme, möchte ich glauben, vermutlich aber hat das ganz andere Gründe: Frauen, noch dazu Mütter, können unsere prekäre Situation deutlich besser nachempfinden als Männer.
Eine Bekannte bringt uns nebst Springmatratze eine Ladung Puzzles, Dominosteine und ein Technikbauset
„Papa, mach doch nicht so ein Drama. Wir räumen ja alles wieder auf.“
Leere Versprechungen eines Neunjährigen
vorbei. Das ist schön, hat aber den Nachteil, dass das Wohnzimmer nur Minuten später aussieht wie ein Spielwaren-testlabor.
„Papa, mach doch nicht so ein Drama. Wir räumen ja alles wieder auf“, belehrt mich der Große, als ich in einem Anfall von Lagerkoller wie ein Feldwebel durch die Zimmer schreite, über Legosteine stolpere und auch mal herumliegende Bücher in die Ecke schleudere. Trotzdem bin ich in solchen Momenten auch froh, dass wir in Quarantäne sind – weil kein Besucher unser Chaos sehen kann. Mehr denn je kann ich auch meine Mutter verstehen, die mich einst zu Hausarrest verdonnert hat, solange die Bude nicht in Ordnung war. Hausarrest haben wir freilich schon, doch auch Fernseh- oder Süßiverbot erweisen sich als pädagogisch zwar umstrittene, aber durchaus wirkungsvolle Wege zur Vernunft.
Wirkungsvolle Mittel gegen das Chaos im eigenen Kopf, sagen Experten, sind Listen. Also mache ich das, wofür ich meine Frau bislang meist belächelt habe: Ich schreibe Erledistand fest, dass es sich um ein mutiertes Virus handelte und folglich eine Quarantäne – zu amtsdeutsch: Absonderungspflicht – für alle Haushaltsangehörigen der Kontaktpersonen (Cluster) ersten Grades, also aller Mitschüler und des Lehrers, notwendig wurde. Logisch, dass es in diesen fünf Tagen zahlreiche nicht mehr nachverfolgbare Kontakte gegeben hat – und in diesem Fall eine Operation, die die Klinik wegen des Risikos für die Patienten, aber auch das Personal und andere Patienten im Haus niemals vorgenommen hätte, wenn die Quarantäne-anordnung rechtzeitig bekannt gewesen wäre. Mit einem Augenzwinkern, aber auch nachdenklichen Tönen blickt der Sz-redakteur in dieser Geschichte auf eine Herausforderung, auf die er zwar gerne verzichtet hätte, die ihm aber auch wertvolle Erfahrungen mit seinen Kindern und eine gehörige Portion Respekt vor der alltäglichen Leistung alleinerziehender Mütter und Väter – auch ohne Quarantäne – beschert hat.
manchmal schnell vorbei. Ich jedenfalls hab die Sz-lektüre gerade begonnen, ehe ich ein verdächtig lange anhaltendes Geräusch aus dem Badezimmer vernehme. „Was machst du da?“, frag ich den Kleinen, als ich sehe, dass er am Waschbecken den Hahn aufgedreht hat und auf die Wasseruhr starrt: „Ich möchte sehen, wie sich die Zahlen drehen!“
Und weil ihn das Plätschern offensichtlich inspiriert, möchte er baden. Und zwar auf der Stelle. Am Vormittag. Mit seiner neuen Badekugel. „Jetzt nerv mich nicht“, entgegne ich. „Aber ich bin halt so aufgeregt!“, begründet er sein Drängeln. „Du hast doch den ganzen Tag noch Zeit“, sage ich. Worauf er antwortet: „Aber so lange sind die Tage immer nicht.“Oh doch, sind sie, denke ich mir, muss aber gleichzeitig schmunzeln über so viel Schlagfertigkeit. Und wenige Minuten später sitzt der Kleine in der Wanne.
Apropos Ungeduld: In Gedanken erstelle ich eine Hitliste der beliebtesten Wörter und Sätze, die meine Jungs im Laufe eines langen Tages sagen. Weit vorne liegen: „Ich hab Hunger!“– „Mir ist langweilig“, – „Wo bleibst du denn?“– „Wann dürfen wir Fernseh schauen?“– „Ich will aber nicht alleine spielen!“– Weit hinten landet: „Danke!“, gar keinen Platz findet: „Papa, du machst das toll.“
Schade eigentlich, denn ich strenge mich wirklich an, ein guter Familien-quarantäne-manager zu sein, und reiße mich selbst in Stresssituationen meist am Riemen. Zum Beispiel, als die Druckerpatrone ausgerechnet in dem Moment den Geist aufgibt, in dem ich dem Kleinen seine ersehnte Ausmal-giraffe ausdrucken will. Eine Ersatzpatrone ist – natürlich – nicht im Haus. Ich fluche innerlich, ehe der gerade seine Deutschaufgaben erledigende Große aus seinem Zimmer ruft: „Papa, gibt es das Wort ,sorgenfrei’?“– „Nein, das gibt es nicht !!!! “, möchte ich rüberbrüllen, begnüge mich aber mit einem moderaten: „Eigentlich schon.“
Erstaunlich sorgenfrei sind zum Beispiel die Nächte – auch wenn die Kinder mitunter nachts oder morgens in mein Bett gekrochen kommen. Obwohl hundemüde, genieße ich die Nähe und bewundere die beiden, wie sie alles meistern. Erst wochenlang keine Schule und kein Kindergarten, dann vier Wochen ohne Mama, davon auch noch eine ohne Oma und Freunde, mit Papa allein zu Haus – klar, dass das seine Spuren hinterlässt. „Ich war in diesem Jahr gerade mal vier Tage in der Schule“, stellt der Große eines Tages mit einer Mischung aus Staunen und Bedauern fest. So ist’s kein Wunder, dass ihm am ersten Quarantäneabend das Herz schmerzt, am zweiten die Brust, am dritten der Fuß und am vierten der Nacken. Ein Tuch von
Der Spitzenreiter in der Hitliste der beliebtesten Quarantäne-sätze
Mama, das auch nach ihr duftet, ist Balsam nicht nur für den Hals, sondern ganz sicher auch für die Seele.
Auch der Kleine kämpft spürbar einen inneren Kampf. Nicht selten steht er am Fenster und beobachtet voller Sehnsucht die spielenden Kinder im Garten gegenüber – es ist sein Kindergarten, den er nicht besuchen darf. „Papa, wie lange darf ich nicht in den Kindergarten gehen?“, fragt er mich traurig, und ich antworte: „Eine Woche.“- „Bis morgen?“– „Nein.“„Bis Sonntag?“– „Nein. Noch achtmal schlafen.“– Am nächsten Tag beim Frühstück sagt er: „Gell, Papa, jetzt muss ich noch siebenmal schlafen.“Und am Abend berührt mich der Kleine mit einem herzerweichenden Satz: „Weißt du, ich möchte Mama mal wieder umarmen.“
Das möchte auch ich, doch das kann ich vorerst ebenso vergessen wie alles andere, was mir persönlich Freude machen würde. Ich quäle mich durch die Quarantäne-blase und frage mich in Anlehnung an den Philosophen Richard David Precht: „Wer bin ich, und wenn ja wie viele?“Meine Life-balance ist etwa so stabil wie Götterspeise, mein Spiegelbild sieht aus wie Catweazle mit Augenrändern und das Leben jenseits unseres Gefängnisses nehme ich – trotz Videotelefonaten und Whatsappchats mit Freunden – eher sporadisch wahr. Selbst die erneute Niederlage
meines Lieblingsfußballklubs berührt mich kaum, und die erste Hochrechnung zur Landtagswahl verpasse ich glatt.
Wenigstens haben wir, im Gegensatz zu vielen anderen Quarantänefamilien, neben unserer großen Mietwohnung auch noch einen Garten, der zwischendurch zum Freigang lädt! Nur leider hat Petrus gar kein Verständnis für unsere Situation und beschert Aprilwetter im März. „Papa, ich will Schlitten fahren“, ruft der Kleine beim morgendlichen Blick aus dem Fenster. „Das geht nicht“, sage ich ihm und ernte Verständnis: „Gell, wegen Corona dürfen wir nicht in die Stadt?“– „Ja. Außerdem schmilzt der Schnee ganz schnell“, tröste ich ihn. An zwei Nachmittagen schnuppern wir dann doch noch im doppelten Sinne „frische“Gartenluft. Ob das die Quarantäneregeln überhaupt erlauben? Die Recherche spar ich mir.
Zumal alle unsere Corona-tests negativ sind. So nähern wir uns schon dem Ende der Absonderungspflicht, als uns eine E-mail der Kita unseres Kleinen erreicht: Wegen einer „Berührung mit Corona“ist die Krippe geschlossen, heißt es in einer Mail. Der Kindergarten sei „aus heutiger Sicht“nicht betroffen, weil getrennt gearbeitet worden sei. Das tröstet, trübt aber trotzdem unsere Öffnungs-perspektive. Muss der Kleine am Ende auch nach der Quarantäne zu Hause bleiben?
Muss er nicht, der Kindergarten bleibt geöffnet, und so eilt unser Bub am Tag x forschen Schrittes aus dem Haus. Ganz wohl ist uns nicht bei dem Gedanken, dass er vielleicht schon morgen eine Quarantäne-anordnung oder gar Corona-infektion (inklusive Mutante) mit nach Hause bringt. Beim Großen ist uns das Risiko derweil zu groß: Steigende Infektionszahlen, Präsenzunterricht in voller Klassenstärke, (noch) keine Maskenpflicht und ein dürftiges Testkonzept – wir setzen weiter auf Homeschooling, die sicherste Form des Abstandhaltens. Den Sohn freut’s: „Die Ruhe zu Hause“– sprich die paar Schulaufgaben – ist ihm wichtiger als ein Wiedersehen mit seinen Klassenkameraden. Zumal eh die Osterferien nahen.
Und ich? Ich schwelge beim Friseur im Glück. Nur auf die nächste Überraschung hätte ich verzichten können. Noch am selben Tag erhalte ich die Nachricht: „Gericht kippt Quarantäne für Kontaktpersonen von Kontaktpersonen – auch bei Corona-mutationen.“Großartig. Kommt genau zehn Tage zu spät. Prima Timing also mal wieder – und ein Crazy End in einem ziemlich verrückten Film.
„Ich hab Hunger!“