Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die große Wucht der kleinen Steinchen
In Oberschwaben hat sich gegen den Kiesabbau ein Protest formiert, der weit über die Region hinausstrahlt. Jetzt bauen Waldbesetzer ein Baumhausdorf im Altdorfer Wald. Wie konnte es dazu kommen?
Ein Vermummter seilt sich aus 20 Metern Höhe vom Baum ab. Dort oben hat er sich sein Zuhause eingerichtet – ein Bretterverschlag mit Dach. Auf einem Banner prangt das Wort „Militanz“. Der junge Mann ist noch recht neu im Baumhausdorf, aber auch er will bleiben, um für den Altdorfer Wald zu kämpfen. So wie seine bis zu 50 Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die zu Spitzenzeiten im Baumhausdorf bei Vogt im Landkreis Ravensburg leben. Die ersten zogen Ende Februar in den Wald und harrten bei Schnee und Kälte aus. Das Baumhausdorf ist bisheriger Höhepunkt eines vier Jahre währenden Konflikts um Kiesabbau. Der Streit strahlt in die Landespolitik und ins benachbarte Ausland aus. Er hat Dimensionen angenommen, wie es sie nur selten im Oberschwäbischen gibt. Es geht um Misstrauen gegenüber den politischen Akteuren, Misstrauen gegenüber Behörden und um einen neuen Zeitgeist für den Umweltschutz.
Mehr als 15 Baumhäuser klemmen in den Fichten des Waldstücks. Dazu kommen Materialplattformen, eine Lernplattform mit Wlanhotspot für Fernunterricht und Fernstudium und eine Küchenplattform. Zahlreiche weitere Baumhäuser werden gerade gezimmert. Das kleine Dorf im Wald zieht Umweltaktivisten aus ganz Deutschland und Europa an. Sie alle wollen den geplanten Kiesabbau verhindern und für den „Alti“kämpfen.
„Alti“, so nennen sie den Altdorfer Wald, das mit 82 Quadratkilometern größte zusammenhängende Waldgebiet Oberschwabens – ein geschichtsträchtiger Ort, um den sich Sagen, Mythen und Legenden ranken. Der Spitzname soll zeigen, welches Vorbild die Aktivisten haben: den Hambi, also den Hambacher Forst, wo Waldbesetzer den geplanten Braunkohleabbau verhindert haben.
Der 18-jährige Klimaaktivist Samuel Bosch hat das erste Baumhaus im „Alti“gebaut und das Dorf gegründet. „Es kann nicht sein, dass wir in Zeiten des Klimawandels den Wald für den Kiesabbau opfern, Trinkwasserquellen gefährden und den Kies dann auch noch nach Vorarlberg und in die Schweiz exportieren. Wir werden die Rodung auf jeden Fall verhindern“, sagt Samuel Bosch. Dieser Satz spricht den Menschen rund um den Altdorfer Wald aus dem Herzen und hat es in sich. Er fasst die Positionen der Kiesabbaugegner zusammen. Doch so einfach ist es nicht.
Feindbild der Aktivisten ist der Regionalverband Bodensee-oberschwaben, der zurzeit einen neuen Regionalplan erstellt, der festschreibt, wie sich die Landkreise Ravensburg, Sigmaringen und der Bodenseekreis in den nächsten 20 Jahren entwickeln sollen. Also, wo Gewerbeflächen und Wohngebiete entstehen dürfen, wo Straßen gebaut werden können, wo nicht gebaut werden darf, wo Trinkwasser vorgehalten wird, aber eben auch wo die dringend benötigten Rohstoffe für die wirtschaftliche Entwicklung abgebaut werden dürfen.
Kies ist das Öl Oberschwabens. Die Region ist durch die letzte Eiszeit reich an Kies, und Kies ist ein elementarer Baurohstoff. Ohne Kies kein Beton und kein Asphalt, ohne Beton und Asphalt keine Neubaugebiete und keine neuen Straßen. Und der Bauboom hält wegen des chronischen Wohnungsdrucks in der wirtschaftlich prosperierenden Region an. Jetzt soll eine elf Hektar große Grube im Altdorfer Wald zusätzlich Kies liefern, das im benachbarten Grenis aufbereitet werden soll. Das wurde im April 2017 bekannt. Die elf Hektar sind Staatsforst und vom Land an das Unternehmen Meichle und Mohr verpachtet. Über elf Hektar können die Leutkircher und Sigmaringer nur müde lächeln, denn dort befinden sich Hunderte von Hektar an Kiesgruben. Doch wieso regt sich ausgerechnet in Vogt ein so heftiger Widerstand?
Rund um den Altdorfer Wald stemmen sich Bürgermeister und Gemeinderäte gegen das Projekt. „Wir haben alternative Flächen in der Umgebung vorgeschlagen, aber bitte nicht an diesem Ort“, sagt Vogts Bürgermeister Peter Smigoc (CDU), der hofft, dass das Gebiet doch noch aus dem Entwurf verschwindet. Der Ravensburger Kreistag beschäftigt sich regelmäßig mit dem Thema. Zwei Petitionen mit mehr als 13 000 Unterschriften erreichten den Landtag, der Kiesabbau war Wahlkampfthema, Bürger legten Widerspruch gegen den Regionalplanentwurf ein, erst vor einer Woche verabschiedete der Landesverband Baden-württemberg des BUND eine Resolution für den Schutz des Altdorfer Waldes sowie gegen den Kiesabbau, und die Internationale Bodensee-konferenz berät über den Kiesexport, der im Rahmen der Diskussion thematisiert wurde.
Nach Recherchen der „Schwäbischen Zeitung“verlassen jedes Jahr mehr als zehn Prozent des geförderten Kieses die Region nach Vorarlberg und in die Schweiz, wo zu wenig Kiesabbaugebiete für den eigenen Bedarf ausgewiesen sind und wo der Rohstoff teurer ist als hierzulande. Jetzt soll eine vom Landesumweltministerium in Stuttgart beauftragte Studie im Herbst erstmals valide Zahlen über die Rohstoffströme in der Bodenseeregion liefern. Auch das österreichische Bundesland Vorarlberg befasst sich mit dem Konflikt in Oberschwaben. „Ich kenne die Debatte bei euch sehr gut und ich kann sie verstehen“, sagt der Vorarlberger Landesrat Johannes Rauch (Grüne) bei einer Veranstaltung mit dem Ravensburger Landtagsabgeordneten und Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) im März.
Zurück im Altdorfer Wald. Dort staunt Alexander Knor über das, was die jungen Aktivisten gebaut haben. Der Pensionär ist Sprecher des Vereins „Natur- und Kulturlandschaft Altdorfer Wald“, der den Wald ins Bewusstsein holen will, was ihm durch einen Film mit Drohnenaufnahmen im November 2019 gelungen ist. „Wir werden als Kiesabbaugegner bezeichnet. So stimmt das nicht ganz. Wir sind nicht generell gegen Kiesabbau, weil wir Kies brauchen. Das steht außer Frage. Aber muss das ausgerechnet an dieser empfindlichen Stelle sein?“, fragt Knor. Er nennt den Naturraum,
das Naherholungsgebiet, kritisiert den Kiesexport und nennt die Trinkwasserquellen Weißenbronnen, die die Gemeinden Baienfurt und Baindt mit Trinkwasser versorgen.
Wasser ist ein elementarer Bestandteil des Konflikts. „Es ist Trinkwasser in bester Qualität. Wir beobachten, dass die Wassermenge sogar zugenommen hat und deutlich mehr Menschen im Schussental versorgen kann“, berichtet Baienfurts Bürgermeister Günter A. Binder (CDU). Bis zu 100 000 Menschen könnten profitieren, momentan sind 12 500 Personen ans Wassernetz angeschlossen. Binder verweist auf die immer trockeneren Sommer. Die Gemeinderäte aus Baienfurt und Baindt hatten Anfang 2018 aus Angst vor negativen Auswirkungen des Kiesabbaus auf ihre Quellen gar ein Wassergutachten in Auftrag gegeben. Dies kann als Zeichen des Misstrauens in den Regionalverband und in die Kreisverwaltung gewertet werden. Denn diese führt das Genehmigungsverfahren, wenn das Kiesabbaugebiet in den Regionalplan kommt.
Das Gutachten sollte klären, ob das Kiesabbaugebiet im Einzugsbereich der Quelle liegt. Tut es nicht. Aber der Gutachter, der Hydrogeologe Hermann Schad, verweist auf die Besonderheit des sogenannten Waldburger Rückens, eine in der letzten Eiszeit gebildete Moräne, die mit dem Altdorfer Wald bedeckt ist, und die er mit den Drumlins vergleicht – also jenen landschaftlich charakteristischen Jungmoränen des Allgäus. Es sei ein geologisch komplexes Gebiet, unterscheide sich von anderen Kiesabbaugebieten und außerdem sei das Trinkwasser durch Wald und
Soziologie-professor Andreas Lange die Kiesschichten bestens geschützt. Er empfiehlt, das Gebiet als Trinkwasserspeicher für die Region zu nutzen. Zurzeit läuft ein Verfahren zur Erweiterung des Wasserschutzgebietes. Doch selbst in bestimmten Zonen von Wasserschutzgebieten darf und wird unter Auflagen bereits Kies abgebaut.
„Trinkwasser ist durch Rohstoffgewinnung nicht gefährdet. Diese Punkte werden beim Genehmigungsverfahren genauestens untersucht“, sagt Thomas Beißwenger. Dem Geschäftsführer des Industrieverbands Steine und Erden Badenwürttemberg (ISTE) ist ein so heftiger Gegenwind wie aus Vogt bislang nicht entgegengeblasen, obwohl er immer wieder mit Widerstand gegen neue Gruben zu tun hat. „Die Opferbereitschaft im Baumhausdorf ist sehr hoch.“Eines macht ihn nachdenklich, wenn er über Vogt spricht. „Ich finde es schade, wenn Verwaltung und Industrie unterstellt wird, nicht an Lösungen interessiert zu sein“, sagt Beißwenger. Er sieht den Konflikt um den Rohstoffabbau in Vogt nicht nur als Protest gegen den Kiesabbau, sondern viel mehr als Protest gegen den Regionalplan. „Die Rohstoffgewinnung ist ein Symbol im Protest gegen die Form, wie wir leben und wirtschaften“, so Beißwenger. Schließlich geht es in der Protestbewegung um Nachhaltigkeit. Aber: „In der Regel braucht der Kieser kein Kies, sondern die Gesellschaft braucht Kies.“Eines ist dem Diplom-biologen wichtig: „Wenn ich höre ,Alti bleibt’, impliziert das, dass der Wald in Gefahr ist. Und das ist er nicht. Der Wald wird bleiben – zu 99,9 Prozent.“Außerdem werde rekultiviert.
Darauf verweist auch Rudi Holzberger. Kaum jemand kennt den Altdorfer Wald so gut wie er. Er lebt am Rande des Waldes, Waldsterben war Thema seiner Dissertation und in den 1980er-jahren hat er ein Buch über ihn geschrieben. „Der Wald hat größere Probleme als den Kiesabbau. Es gibt wunderbare Modelle der Rekultivierung, die noch mehr Biodiversität aufweisen als vor dem Abbau“, sagt Holzberger. Aber was Vogt betrifft, ist er ganz klar. „Das muss auf jeden Fall gestoppt werden, wenn auch nur der leiseste Verdacht auf eine Gefahr besteht. Der Weißenbronnen mit seinen Wasserfällen ist ein so fantastischer Fleck, da finden Sie auf wenigen Metern alle neun Kräuter für die Gründonnerstagssuppe.“
Holzberger hätte nie gedacht, dass sein Herzensthema Altdorfer
Wald so große Aufmerksamkeit bekommen würde. Jetzt könnte der Forst gar Teil eines neuen Biosphärengebiets Oberschwaben werden, wie bei Koalitionsverhandlungen von Grünen und CDU in Stuttgart bekannt wurde. Beobachter sehen auch dafür die Diskussion in Vogt als Stein des Anstoßes. „Das wäre eine Aufwertung für die Region. Diese Chance sollten wir nutzen und ein Konzept für den Wald erstellen“, findet Holzberger. Damit meint er ein Naherholungskonzept mit Wanderkarten, ein waldpädagogisches und ein kulturelles Konzept. Die Corona-pandemie sei jetzt eine Chance dafür, wenn die Menschen ihre Heimat neu entdecken.
Was gerade im Altdorfer Wald passiert, bezeichnet Andreas Lange als „Brennglas für unsere Gesellschaft“. Er ist Professor für Soziologie an der Hochschule Ravensburgweingarten. Das Misstrauen gegenüber Entscheidern und Prozessen, ein wachsender und von der Landespolitik forcierter Partizipationsgedanke gepaart mit einer durch die Sozialisation entstandenen hohen Umweltsensibilität der Menschen in der Region seien weitere Gründe für den Protest. „Diese Faktoren können dazu führen, dass selbst eine kleine Kiesgrube zum großen Anstoß werden kann“, so Lange.
Die Corona-pandemie habe dies sogar noch verstärkt, weil der Wald, der in der deutschen Kulturgeschichte schon immer eine bedeutende Rolle gespielt hat, als Symbol neu aufgeladen wurde. Er steht in Zeiten von Social Distancing, also Kontaktbeschränkungen, wie nie für Naherholung und Krafttanken. „Ich habe noch nie so viele Studenten gehabt, die mir von Waldbaden als therapeutischem Ausgleich zum Online-unterricht berichtet haben“, so Lange.
Im Juni steht der Satzungsbeschluss des Regionalplans an. Dann wird entschieden, ob die Kiesgrube in Grund drinbleibt. Höchstwahrscheinlich schon. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Grube kommt, sondern lediglich, dass das Genehmigungsverfahren mit sämtlichen Prüfungen starten kann. Der Protest im „Alti“wird aber bleiben.
„Diese Kiesgrube ist ein Brennglas für unsere Gesellschaft.“
Weitere Texte und Hintergründe zu den Themen Kiesabbau und Altdorfer Wald hat die „Schwäbische Zeitung“in Online-dossiers zusammengefasst: www.schwäbische.de/kiesabbau www.schwäbische.de/altdorferwald