Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Neu-ulm zu Ulm: Filius will weiter wirken
Der Grüne scheidet als Landtagsabgeordneter aus – Sein Gestaltungswille ist ungebrochen
- Die neue Landesregierung ist die alte. Sie wird abermals angeführt von Winfried Kretschmann, die CDU regiert als Juniorpartner mit. Nicht mehr dabei ist der grüne Ulmer Landtagsabgeordnete Jürgen Filius (60), zwei Perioden saß er im Parlament. Warum „Mister Untersuchungsausschuss“eine Fusion von Ulm und Neu-ulm befürwortet, verrät er im Interview mit Johannes Rauneker.
Herr Filius, die „neue“grünschwarze Landesregierung startet bald durch. Sind Sie traurig, dass Sie die nächsten fünf Jahre nicht begleiten können? Es ist nicht vermessen zu sagen, dass Sie auch ein drittes Mal in den Landtag gewählt worden wären.
Es ist schon etwas Besonders jetzt. Aber ich bin überhaupt nicht traurig, denn es war eine Entscheidung, die sich selbst getroffen habe. Und das schon deutlich vor der Wahl. Politik bedeutet für mich: Es werden Mandate auf Zeit vergeben. Interessant ist, dass diese Debatte nun auf Bundesebene geführt wird und viele sich die Frage stellen: Soll eine Kanzlerschaft automatisch nach der zweiten Periode enden? Ich fände das ganz gut. Und für mich persönlich habe ich immer gesagt: Zehn Jahre reichen. Etwas anderes konnte ich mir nie vorstellen. Ich finde es bedrückend, wenn manche Leute 20, 30 oder 40 Jahre lang ein Mandat ausüben. Dabei sollten sie doch Stellvertreter der Bürger sein. Häufig verschmelzen über die Jahrzehnte dann Person und Mandat.
Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Jahre als Abgeordneter: Denken Sie da vor allem an die vielen Untersuchungsausschüsse, in denen Sie saßen oder die Sie sogar geführt haben?
Anscheinend gab es tatsächlich keinen anderen Abgeordneten, der an mehr Untersuchungsausschüssen beteiligt war. Der zur ENBW war mein erster, das ging es darum, dass der Anteilskauf des Landes, damals noch unter Stefan Mappus, verfassungswidrig war. Willi Stächele musste zurücktreten. Zwei Untersuchungsausschüsse drehten sich um den NSU, mein letzter, da war ich auch Vorsitzender, rund um die Expo in Dubai und die Frage, warum da Landesgeld geflossen ist.
Jetzt haben Sie mehr Zeit für Ihre Familie. Merken Sie das schon?
Ja, der Briefkasten ist leerer. Und was die Familie und Zeit angeht, war und ist Corona natürlich fast hilfreich. Viele repräsentative Termine sind weggefallen. Ich war schon zuletzt viel daheim.
Wie geht es für die Ulmer Grünen ohne Jürgen Filius weiter?
Wir Grüne haben viele gute und interessante Personen in Ulm, wir hatten einen großen Mitgliederzuwachs. Wir sind auf dem Weg, uns ganz stark zu etablieren. Die größte Fraktion im Gemeinderat sind wir schon und Marcel Emmerich zieht wohl im Herbst in den Bundestag ein. Wir sind gut verortet und dazu konnte ich ein Stück weit beitragen, glaube ich.
Was waren die größten Herausforderungen der vergangenen zehn Jahre?
Der Wechsel 2011, der war bahnbrechend. In den kühnsten Träumen konnten sich die wenigsten vorstellen, dass wir Grünen den Ministerpräsidenten stellen und auch noch gut durchregieren. Auch wegen S21 war das ja zunächst eine wackelige Geschichte. Das haben wir dann durch den Volksentscheid befriedet.
Sie sind noch immer kein Fan von S21?
Der Tiefbahnhof wird uns weitere Probleme bereiten. 2010, vor der Landtagswahl, stand auf Plakaten: Mann müsse S21 jetzt zu Ende bauen. Jetzt schreiben wir 2021 – es wird immer noch gebaut. Ich bezweifle auch den verkehrlichen Mehrwert des Tiefbahnhofs. Aber ich will nicht unken. Wichtig ist auf jeden Fall die Neubautrasse Wendlingen-ulm. Was ich mir noch wünsche: Dass auch der Hauptbahnhof in Ulm auf ein besseres Level gehoben wird.
Die neue Koalition ist die alte. Viele vermissen darin Aufbruch... Das, was in den Gesprächen und Papieren festgelegt wurde zwischen Grünen und CDU, ist tatsächlich ein Quantensprung. Zunächst haben wir mit der CDU auf gleicher Höhe regiert, das ist jetzt ein Unterschied. Die CDU ist der Juniorpartner. Wir Grüne haben viel durchgesetzt, zum Beispiel bei der Photovoltaik bei Neubauten. Aber finde, wenn wir von Aufbruch reden, kann die Coronakrise auch eine Chance sein. Ich glaube, ich zitiere Wolfgang Schäuble, der sagte: Die Krise bietet die Chance, Neues zu denken.
Woran denken Sie dabei?
Mit manchen Umständen kann ich mich nicht abfinden. Als ich in den 70ern sozialisiert wurde, hatten wir die klare Vorstellung: Wir werden die Republik Europa, das vereinigte Europa, noch erleben. Die meisten Politiker auf Bundesebene sagen heute:
Sie wollen ebenfalls mehr Europa. Aber niemand sagt konkret, was das heißt.
Sagen Sie es uns. Weniger Mitspracherecht der Länder, weg vom
Einstimmigkeitsprinzip bei der EU. Wir brauchen einen Eu-außenminister mit höherer Wertigkeit. Das würde bedeuten, das Heiko Maas weniger zu sagen hat. Das möchte aber niemand den Menschen erzählen. In den 70ern wurde vieles neu gedacht. Bei den Kirchen formte sich eine Union der Christen, die Ökumene. Das zeigte: Es geht zusammen, man kann zur Einheit werden. Mein Lieblingsthema: Es ist anachronistisch, ein so kleines Bundesland wie Bremen in der Bundesrepublik zu haben. Außer vielleicht in Bremen nickt da jeder mit dem Kopf. Die Gez-erhöhung kam auch deshalb, weil Radio Bremen und Saarländischer Rundfunk defizitär sind. Man kann das auf allen Ebenen durchziehen, auch im Fußball. Wir haben drei Verbände in Baden-württemberg. In 70 Jahren haben wir es nicht geschafft, eine einheitliche Struktur hinzubekommen. Auch bei uns vor der Haustüre nicht.
In der Region?
Im sogenannten Ernst-gutachten aus den 70ern war die Rede davon, dass Neu-ulm zu Baden-württemberg kommt und Bayern im Norden einen Ausgleich bekommt. Warum schaffen wir es nicht, solche Ideen weiter zu denken? Es gibt gottseidank keine Kriege mehr heute. Grenzen wurden früher gezogen, weil es Kriege gab. Siehe Napoleon. Das ist aber vorbei und wir hätten die einmalige Chance, solche Strukturen zu verändern. Hier bräuchten wir einen neuen Aufbruch.
Sollen Neu-ulm und Ulm fusionieren?
Ich werde an dem Thema der Doppelstadt Ulm/neu-ulm auf jeden Fall dran bleiben. Ich kann das nicht entscheiden, das entscheiden andere. Aber ja, das ist meine Vorstellung: Eine Stadt bestehend aus Ulm und Neuulm. Dann hätten wir nicht mehr zwei Stadtverwaltungen, zwischen denen eine Luftlinie von nur 300 Metern liegt. Es ist ja schon vieles auf dem Weg. Aber vielleicht gibt es weitere Synergien? Man könnte die Verwaltung verschlanken, der Bürger würde profitieren.
Klingt interessant, aber hätte sicher auch Gegner.
Auch wir Grünen wollten ursprünglich mal die Regierungspräsidien abschaffen. Das haben wir dann nicht gemacht. Da ist so viel Druck im Kessel, man trappt vielen Menschen auf die Füße. So etwas kann die Politik allein aber auch nicht schaffen, da muss der Zeitgeist passen.
Hat die Politik Angst vor dem Wähler?
Es wird teils hasenfüßig agiert. Ich glaube, der Wähler würde mehr Ehrlichkeit schätzen. Ich glaube, diesbezüglich sind wir mit Winfried Kretschmann schon weit. Der ist ehrlich, die Leute verstehen das dann auch, auch wenn es unangenehm ist.
Mehr Mut zur Lücke?
Allemal besser als sich durchzuschwurblen.
Ohne sich durchzuschwurbeln: Hätte Sie ein Ministeramt gereizt?
2016 wurde ich von den „Stuttgarter Nachrichten“Mal auf das Schild gehoben, als sich das Personalkarussell drehte. Ich habe aber immer gesagt von vornherein, dass ich das nicht will. Morgens um 6 Uhr kommt der Chauffeur und abends um 22 Uhr ist man wieder zuhause. Wäre mir zu fremdbestimmt. Das war auch die Absprache mit meiner Frau. Ich konnte trotzdem einige Dinge auf den Weg bringen, auch ohne Abgeordneten-mandat. Den Bürgerentscheid „Neue Straße“vor mehr als 30 Jahren. Da ging es um einen Tunnel unter der Stadt hindurch. Der Bürgerentscheid hatte Erfolg, der Tunnel wurde begraben.
Was haben Sie für die Ulmer Region in den vergangenen zehn Jahren erreicht?
Ich war immer verlässlicher Ansprechpartner für die großen Spieler der Region, die IHK, die Handwerkskammer, die Polizei. Schön war die Stadterhebung Blausteins, ein tolles Konzert. Auch der Zuschlag der Landesgartenschau 2030 für Ulm war etwas besonderes. Wir haben in Ulm jetzt auch ein Haus des Jugendrechts, eine Außenstelle der Hochschule für Rechtspfleger und die Uniklinik bekommt eine eigene Neurologie. Ganz wichtig natürlich: die Wissenschaftsstadt. Ich konnte hier als Abgeordneter mit anschieben, so auch beim Bahnhof Merklingen. Ohne „Winne“Hermann würde es den nicht geben.
Ihre Lust auf Gestaltung scheint ungebrochen – können Sie ausschließen, in drei Jahren bei der nächsten Ulmer Ob-wahl Ihren Hut in den Ring zu werfen?
Das ist auszuschließen.