Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Horror gegen Hoffnung
Ein Jahr nach den Wahlen sind die Proteste in Belarus verstummt
- Der 9. August 2020 war ein Tag enttäuschter Träume. „Wir standen Schlange vor den Wahllokalen und diskutierten die Zukunft ohne Lukaschenko“, erzählt der Minsker Automechaniker Pjotr. Aber am Abend gaben die Staatsmedien das vorläufige Wahlergebnis bekannt: „80 Prozent für Lukaschenko. Mich packte eine Riesenwut.“Staatschef Alexander Lukaschenko, seit 1994 an der Macht, feierte bei den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr einen schamlosen Sieg, bei dem unabhängige Beobachter massenhaft aus den Wahllokalen ausgesperrt, Auszählungsprotokolle stapelweise gefälscht wurden. Im ganzen Land gingen Zehntausende Menschen spontan auf die Straße, Schlägertrupps der Polizei stürzten sich auf sie. Pjotr erwischten sie in der zweiten Nacht auf dem Dach einer Pizzeria. Ein Beamter schoss ihm eine Gummikugel ins Knie, er hangelte sich noch die Leiter herunter, unten schlugen sie ihn zusammen, droschen gezielt auf seine heftig blutende Wunde. „Ich lag auf dem Teer, neben einem reglosen Mann, die Blutlache unter ihm wurde immer größer.“
Anfangs bauten auch die Belarussen spontan Barrikaden, wehrten sich mit bloßen Fäusten. Aber angesichts der brecheisernen Brutalität der Sicherheitskräfte, die in nur einer Woche zwei Tote und über 200 Verletzte forderte, versuchte die Straßenopposition es mit gewaltfreiem Widerstand, Frauen in weißen Kleidern bildeten kilometerlange Menschenketten. Der kleinste gemeinsame Nenner der Aufständischen: Lukaschenkos Rücktritt und freie Wahlen. Dafür versammelten sich an mehreren Augustund Septembersonntagen mehr als 200 000 Leute allein in der Zweimillionen-stadt Minsk – im Vergleich zur Einwohnerzahl vierzigmal mehr als bei den größten Nawalny-kundgebungen in Moskau. Die Teilnehmer reden von Euphorie, von kollektivem Glücksgefühl, die Nation habe sich auf der Straße selbst entdeckt. „Alte Leute und Mädchen, noch jünger als ich, protestierten, wie konnte ich da zu Hause bleiben?“, Pjotr lief nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf Krücken mit.
Manche Beobachter sagen, die 200 000 in Minsk hätten einfach in den Präsidentenpalast hinein marschieren müssen, bezeichnen fehlende Gewaltbereitschaft als großes Manko der Revolution. Allerdings fehlte im Unterschied zum ukrainischen Maidan in Belarus jede Möglichkeit, eine Gegenmacht zu organisieren. „Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch war auch autoritär, aber ihm fehlte die komplette Kontrolle über den Sicherheitsapparat, vor allem über die Armee“, sagt der Minsker Politologe Andrei Kasakewitsch. In der Ukraine habe es eine handlungsfähige Opposition im Parlament gegeben, außerdem in der staatlichen Bürokratie und der Wirtschaftsoligarchie. Und Lukaschenko habe seine Lehren aus dem Zaudern
Janukowitschs gezogen. „Er schlug schon im August äußerst hart zu.“
Außerdem wusste Lukaschenko Russland hinter sich. Ende August verkündete Wladimir Putin, man habe eine Polizeireserve formiert, um bei Bedarf in Belarus einzugreifen, Mitte September bewilligte er Lukaschenko einen 1,5 Milliarden Dollarkredit. Dessen Sicherheitskräfte agierten wie Wegelagerer, stürzten sich auf die Demonstranten, wenn sie abends in kleinen Gruppen in ihre Wohnviertel zurückkehrten. Im Herbst begannen sie, die Minsker schon auf dem Fußmarsch ins Stadtzentrum zu überfallen. Die sonntäglichen Protestzahlen schmolzen, im Winter wagte sich kaum noch jemand auf die Straße. Laut dem Menschenrechtszentrum Viasna wurden vergangenes Jahr 30 000 Demonstranten festgenommen, die Staatsanwaltschaft eröffnete inzwischen 4200 Strafverfahren gegen „Extremisten und Terroristen“. Immer mehr Bürger flohen ins Ausland, die meisten Oppositionsführer wie Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja hatten sich schon im Sommer abgesetzt. Andere sitzen hinter Gittern, wie der aussichtsreichste Konkurrent Lukaschenkos, der Exbankier Viktor Babariko, inzwischen wegen angeblicher Korruption zu 14 Jahren Straflager verurteilt, oder seine mutige Wahlkampfmanagerin Maria Kolesnikowa. Als der Sicherheitsdienst sie in die Ukraine abschieben wollte, zerriss sie ihren Pass, jetzt drohen ihr zwölf Jahre Haft.
Laut Politologe Kasakewitsch ist Lukaschenko „ein Autokrat ohne Mehrheit“. 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung seien gegen ihn, auch im Staatsapparat wachse angesichts des immer knapperen Ressourcenkuchens der Unmut. Wirtschaftlich ist Lukaschenkos Regime jetzt völlig von Russland abhängig. Exilaktivisten schätzen, das koste Moskau jährlich fünf Milliarden Dollar. „Ein schwacher Lukaschenko ist Russland gerade recht“, so Kasakewitsch. Der Kreml strebe danach, den Status quo einzufrieren, werde Lukaschenko stützen, solange der sich selbst an der Macht halte. „Und wenn er doch zu wanken beginnt, wird jede belarussische Opposition gezwungen sein, sich mit Moskau zu einigen.“
Die Zeitkurven der Revolution unterscheiden sich. Für Pjotr, den Automechaniker, war sie Anfang September vorbei. Leidensgenossen, die von den Polizisten krankenhausreif geprügelt wurden und deshalb wie er Anzeige erstattet hatten, wurden reihenweise vorgeladen und verhaftet. Er floh über Moskau nach Tschechien. „Aber Minsk“, sagt er, „ist unsere Stadt.“