Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Jetzt auch Kundus
Rund zehn Jahre lang war die Bundeswehr in der nordafghanischen Provinzhauptstadt stationiert – Nun wurde der Ort von den radikalislamischen Taliban erobert
- Nach zwei Tagen heftiger Kämpfe herrschte am Sonntag Chaos in der afghanischen Großstadt Kundus. Die Taliban verkündeten den Fall der 370 000-Einwohner-stadt. Drei Provinzräte und Einwohner berichteten Nachrichtenagenturen und internationalen Medien von der Einnahme der wichtigsten Regierungsgebäude, von der Flucht der Regierungsmitarbeiter, von Gefängnisbefreiungen und von einer teilweise brennenden Stadt. Nur dort, wo die Bundeswehr einst in der Nähe des Flughafens ihren Stützpunkt hatte, sollen zumindest bis zum Abend afghanische Streitkräfte die Kontrolle behalten haben.
Warum ist der Fall von besonderer Bedeutung?
Es ist die erste Großstadt, die die Taliban erobert haben. Die Kämpfe im Norden zeigen auch, dass die afghanischen Sicherheitskräfte, die von westlichen Militärs ausgebildet wurden, die Taliban derzeit nicht aufhalten können. Für Deutschland ist Kundus mit besonders schmerzlichen Erinnerungen verbunden. Hier hatte sich die Bundeswehr nach anfänglichen Erfolgen beim friedlichen Aufbau immer mehr im eigenen Lager verschanzen müssen. In Kundus gab es auch die meisten deutschen Gefallenen. Und: Bei einem Luftangriff auf einen Tanklastwagen im Jahr 2009 kamen viele Zivilisten ums Leben.
Wie lange war die Bundeswehr in Kundus?
Die ersten 27 Bundeswehrsoldaten trafen im Oktober 2003 im Feldlager ein. 2013 erfolgte die Übergabe an afghanische Streitkräfte. Die letzten 100 deutschen Soldaten verließen 2020 „Camp Pamir“.
Wie kam es zum Abzug der internationalen Truppen?
Die USA hatten unter der Trump-administration mit den Taliban verhandelt und dabei die afghanische Regierung ausgeschlossen. Die Regierung in Kabul wurde sogar gezwungen, 5000 Taliban aus den Gefängnissen zu entlassen. Im April dieses Jahres beschloss der Nato-rat den Abzug der Soldaten bis zum 11. September. Kurz darauf verkündete Us-präsident Joe Biden, die amerikanischen Truppen würden bis zum 31. August das Land verlassen. Die Bundewehr ist bereits vollständig abgezogen.
Wie ist das Verhalten der Taliban in den eroberten Gebieten?
Es gibt zahlreiche Berichte von schweren Menschenrechtsverletzungen. Frauen dürften nur noch in Begleitung eines Mannes das Haus verlassen. Berichten zufolge, deren Wahrheitsgehalt nicht geprüft werden kann, werden Mitarbeiter der Regierung oder Sicherheitskräfte vielerorts erschossen. Bei einem Terroranschlag wurde der Chefsprecher der afghanischen Regierung, Dawa Chan Manapal, während des Freitagsgebetes ermordet.
Wie reagiert die deutsche Politik?
Das Auswärtige Amt spricht von einer hohen Zahl an zivilen Opfern und verurteilt „die wiederholten Menschenrechtsverletzungen und das gewaltsame Vorgehen der Taliban“. Ein Sprecher sagte: „Durch Waffengewalt erzwungene Machtverhältnisse werden wir nicht anerkennen. Nur eine politische Lösung am Verhandlungstisch wird Grundlage für die fortgesetzte internationale Unterstützung Afghanistans.“Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, sagt: „Wir müssen nun alles unternehmen, um die Gespräche zwischen der demokratisch gewählten Regierung Afghanistans und den Taliban zu einem einvernehmlichen Ergebnis zu führen“. „Die USA hätten zuerst mit den Taliban zu Ende verhandeln sollen, anstatt eilig das Land zu verlassen, ohne vorab Bedingungen zu stellen“, sagte die verteidigungspolitische Sprecherin der Fdp-bundestagsfraktion, Marie-agnes Strack-zimmermann. Nun zeige sich, dass dies ein fataler Fehler war. „Deutschland blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Jetzt erwarte ich von den USA, dass sie wie versprochen die afghanische Armee aus der Luft unterstützen, um den Vormarsch der Taliban aufzuhalten.“