Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Sexualität im Alter soll kein Tabu sein
Senioren bei Prostituierten, grapschende Pflegeheimbewohner – Stadt Neu-ulm wagt Anlauf
- Ein an Demenz erkrankter Mann verliebt sich im Seniorenheim neu. Seine Frau, die von der Krankheit verschont geblieben ist, fühlt sich wie vor den Kopf gestoßen. „Solche Fälle machen Angehörigen oft sehr schwer zu schaffen“, sagt Claudia Sellmer, Seniorenberaterin der Stadt Neu-ulm. Fälle, die in den Einrichtungen für ältere Menschen immer wieder auftreten. Fälle, die die Stadt dazu bewegt haben, sich dem Thema Sexualität im Alter intensiv zu widmen. Dabei sei es „ein grundsätzliches Bedürfnis, das aber ab 65 in der Gesellschaft ausgeblendet wird“, sagt Ralph Seiffert.
Seiffert leitet das für Bildung, Kultur, Sport und Soziales zuständige städtische Dezernat 4. Er hat beobachtet: „Wir tun immer so, als ob wir offen wären und hängen Regenbogenfahnen auf. Aber wir sind es in manchen Bereichen noch nicht.“Zum Beispiel eben beim Thema Sexualität im Alter, das bei vielen Menschen Scham, schlechtes Gewissen, Schuldgefühle hervorrufe. Bei Seniorinnen und Senioren selbst, bei Angehörigen, beim Pflegepersonal.
Das Personal erlebe oft komplizierte Situationen, weiß Claudia Sellmer. Manchmal, weil Bewohner oder Bewohnerinnen nach ihnen grapschen. Vor allem aber bei alltäglichen Dingen, zum Beispiel bei der Körperpflege. „Auch das hat mit Sexualität zu tun, weil die Berührungen etwas auslösen können“, sagt Ralph Seiffert. Seniorenberaterin Claudia Sellmer weiß: „Das ist eine große Herausforderung für die Pflegenden – jeden Tag.“Sie und ihre Kollegin Tanja Kast haben das aus den Pflegeeinrichtungen erfahren. Und sie gehen davon aus: Was bei den Seniorenberaterinnen ankommt, ist nur die Spitze des Eisbergs.
Filme zeigen oft die Sexualität junger Menschen, selten die von älteren. In manchen gesellschaftlichen Bereichen ist das Bewusstsein schon da, wie die Seniorenbegleiterinnen der Stadt beobachten. Etwa bei jüngeren Menschen mit Behinderung. Aber Jüngeren gestehe man Sexualität eben zu, Älteren nicht. Oder zumindest nicht immer.
Die Schuldgefühle, die Ältere entwickeln, wenn sie solche Bedürfnisse haben, können zu Problemen führen. Dann, wenn sich Seniorinnen und Senioren Sex kaufen wollen. Weil sie sich in vielen Fällen genieren, ist das Risiko, auf Betrüger hereinzufallen, groß. Gleichzeitig wüssten Prostituierte oft nicht, worauf es Älteren ankomme. Deswegen gibt es Ausbildungen zur Sexualbegleitung oder Sexualassistenz. Dass es hier in der Region Menschen gibt, die sich so schulen ließen, ist den Beraterinnen aber nicht bekannt.
Ralph Seiffert erinnert an weitere Themen: Bis 1994 war Homosexualität in Deutschland strafbar. Und dass
Menschen als Transgender leben, habe sich erst in den vergangenen Jahren entwickelt. Beim ohnehin schon tabuisierten Thema Sexualität im Alter kämen nun also auch noch Aspekte dazu, die bisher in der Wahrnehmung kaum eine Rolle gespielt hätten: Was wollen und brauchen beispielsweise Schwule, Lesben, Transpersonen im Alter?
Die Neu-ulmer Seniorenberaterinnen wollen nicht nur ein Tabu aufbrechen, sie wollen auch praktische Hilfestellung leisten. Am Samstag, 7. Oktober, von 13 bis 18 Uhr findet der erste Fachtag „Sexualität im Alter – raus aus dem Tabu“in Neu-ulm statt. Laut Plan im Edwin-scharff-haus, notfalls ausschließlich online. Eine Youtube-übertragung für jene, die keinen Platz finden oder nicht selbst kommen wollen, gibt es in jedem Fall.
Fachleute aus ganz Deutschland kommen zu Vorträgen und einer Podiumsdiskussion. Dabei geht es um die Grundsatzfrage „Sex haben und alt sein – wie passt das zusammen?“, aber auch um Alterssexualität und sexuelle Grenzverletzungen, um Schutzkonzepte für Sexualität und Alter, um sexuell übertragbare Krankheiten sowie um trans- und intersexuelle Personen in Alten- und Pflegeheimen. Eine abschließende Diskussionsrunde widmet sich dem Thema Sexualbegleitung.
Begleitend zum Fachtag wird die Ausstellung „Sechzig +“mit erotischen Bildern Älterer gezeigt, die die Berliner Fotografin Anja Müller gemacht hat.
Der Fachtag zum Thema Sexualität richtet sich in erster Linie an das Pflegepersonal. Aber auch Seniorinnen und Senioren sowie Angehörige können teilnehmen. Informationen gibt es unter sexualitaet-alter-neuulm.de. Dort sind auch Anmeldungen möglich.