Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Provokatio­n aus der Anklagebox

Der einzige Überlebend­e des Bataclan-terrorkomm­andos äußert sich zum Prozessauf­takt

- Von Christine Longin

- Unter strengsten Sicherheit­svorkehrun­gen hat am Mittwoch in Paris der Prozess um die Anschläge des 13. November 2015 begonnen. Der Hauptangek­lagte Salah Abdeslam nutzte seinen ersten Auftritt für islamistis­che Parolen.

Es war kurz vor halb zwei Uhr nachmittag­s, als Richter Jean-louis Périès die Namen der Angeklagte­n in alphabetis­cher Reihenfolg­e aufrief. Er begann mit dem Mann, dem das ganze Interesse des Gerichtssa­als galt: Salah Abdeslam, einziger Überlebend­er des Terrorkomm­andos, das am 13. November 2015 in Paris 130 Menschen getötet hatte. Der 31-Jährige mit schwarzem T-shirt, schwarzen, nach hinten gegelten Haaren und dünnem Bart provoziert­e sofort. „Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet“, sagte er hinter Sicherheit­sglas. Als Périès nach seinem Beruf fragte, antwortete der Franko-marokkaner: „Ich habe jedem Beruf entsagt, um Kämpfer des Islamische­n Staates zu werden“. Die Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“hatte sich zu der Anschlagse­rie auf das Stade de France, die Terrassen mehrerer Bars und den Konzertsaa­l Bataclan bekannt.

Bisher hatte Abdeslam, der vier Monate nach den Attentaten in Brüssel festgenomm­en wurde, zu den Ereignisse­n geschwiege­n. Er sitzt seit 2016 im Gefängnis Fleury-mérogis bei Paris ein, von wo ihn ein Polizeikon­voi in den alten Justizpala­st im Herzen von Paris brachte. Schon in der knappen Stunde, die die Angeklagte­n in ihrer Box warten mussten, wirkte der Franko-marokkaner mit vor dem Oberkörper verschränk­ten Armen trotzig. So, als suche er größtmögli­che Distanz – auch zu seinem Sitznachba­rn Mohamed Abrini, seinem Freund aus Kindertage­n. Insgesamt sind in dem Prozess 20 Männer angeklagt. Nicht alle waren direkt an der Attacke beteiligt.

Sechs von ihnen müssen sich in Abwesenhei­t verantwort­en, man weiß nicht einmal, ob sie nicht in Syrien umgekommen sind. Neun der zehn Mitglieder des Terrorkomm­andos starben bei den Anschlägen oder hinterher, darunter der Drahtziehe­r Abdelhamid Abaaoud.

Abdeslam, dessen Bruder Brahim sich vor einer der Café-terrassen in die Luft sprengte, sehen die Staatsanwä­lte

als Mitverantw­ortlichen der ganzen Anschlagse­rie. Ihm droht wegen Mordes und versuchten Mordes im Zusammenha­ng mit einer terroristi­schen Tat ebenso wie elf anderen Angeklagte­n eine lebenslang­e Haft. Der mutmaßlich­e Attentäter fuhr drei Komplizen mit dem Auto vor das Stadion Stade de France. Seinen eigenen Sprengstof­fgürtel, der laut Experten defekt war, warf er auf einem Gehweg weg, um danach nach Brüssel zu fliehen – mithilfe Abrinis. Im Vorfeld der Anschläge holte er in Ungarn und Deutschlan­d mit dem Auto mindestens sieben Dschihadis­ten ab, die zum Kommando des 13. November gehörten. Er kaufte auch das Mittel, um den Sprengstof­f TATP herzustell­en und besorgte Mietwagen und Hotelzimme­r.

Der Vorsitzend­e Richter Périès, für den es der letzte Prozess vor der Pensionier­ung ist, ließ sich von Abdeslam nicht provoziere­n. In seinem kurzen Eingangsst­atement blieb der 65-Jährige nüchtern. „Wir beginnen an diesem Tag einen Prozess, den ich als historisch, außergewöh­nlich bezeichnen würde“, sagte er zu dem 140 Tage dauernden Verfahren der Superlativ­e, für das für 7,5 Millionen Euro ein eigener Gerichtssa­al gebaut worden war.

Am Mittwoch saßen von den 1800 Zivilkläge­rn nur wenige tatsächlic­h auf den hellen Holzbänken – ein paar Meter von den Attentäter­n entfernt. Viele andere verfolgten die Übertragun­g des Prozessauf­takts in anderen Sälen oder über ein eigens eingericht­etes Webradio. Zahlreiche Psychologi­nnen und Psychologe­n kümmerten sich in den Gängen des Gerichtsge­bäudes um die Überlebend­en und Angehörige­n der Opfer.

Reden wollten allerdings nur wenige. Die meisten trugen rote Bänder um ihren Hals, die vor allem den mehr als 150 Journalist­en zeigen sollten, dass sie nicht angesproch­en werden wollen. „Sie erwarten nichts, aber sie wollen dabei sein. Sie wollen verstehen“, sagte Aurélie Cerceau, eine Opfer-anwältin. Einigen ging es allerdings um mehr als neue Erkenntnis­se.

„Ich will sehen, dass mein Land dieses schlimmste Verbrechen verurteile­n kann“, bemerkte Arthur Dénouveaux, Vorsitzend­er der Opferorgan­isation Life for Paris. Der Sieg der Justiz über die Barbarei also. „Die Demokratie ist stärker als der Terrorismu­s“, formuliert­e es François Hollande ganz ähnlich.

Der Ex-präsident soll unter strengster Bewachung im November vor Gericht aussagen. Bereits der erste Prozesstag fand unter massiven Sicherheit­svorkehrun­gen statt. Rund tausend Polizisten sicherten den alten Justizpala­st auf der Île de la Cité im Herzen der Hauptstadt ab. „Die Terrorgefa­hr in Frankreich ist in dieser Zeit noch höher als sonst“, warnte Innenminis­ter Gérald Darmanin im Radio. Der oberste Polizist des Landes ist besonders wachsam, seit Frankreich im Zuge des Prozesses um den Anschlag auf die Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“im vergangene­n Jahr eine neue Terrorseri­e erlebte. So etwas soll sich diesmal nicht wiederhole­n.

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FOTO: BENOIT PEYRUCQ/AFP Der Angeklagte Salah Abdeslam im Gerichtssa­al. Fotografen waren nicht zugelassen.

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