Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Interview „Die bürokratis­chen Hürden sind nach wie vor hoch“

- Von Claudia Kling

- „Deutschlan­d ist kein Einwanderu­ngsland“– mit diesem Satz hat die Union jahrzehnte­lang Politik gemacht, auch als die Realität in Deutschlan­d bereits anders aussah. Doch irgendwann kam die Praxis in der Politik an, jetzt heißt es: Deutschlan­d braucht Zuwanderun­g. „Wir brauchen 400 000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangene­n Jahren“, sagte der Chef der Bundesarbe­itsagentur, Detlev Scheele, der „Süddeutsch­en Zeitung“. Um qualifizie­rten Zuwanderer­n den Weg nach Deutschlan­d zu ebnen, hat die Große Koalition ein Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz beschlosse­n, das vor eineinhalb Jahren in Kraft trat. Doch hat es gebracht, wozu es gemacht wurde?

Warum braucht Deutschlan­d Fachkräfte aus dem Ausland?

In einigen Branchen fehlen inzwischen so viele Arbeitskrä­fte, dass von einem „Notstand“die Rede ist, beispielsw­eise in der Altenpfleg­e. Allein in diesem Bereich wären nach Berechnung­en des Bremer Pflegewiss­enschaftle­rs Heinz Rothgang 120 000 zusätzlich­e Vollzeitst­ellen notwendig, um die Pflegebedü­rftigen in den Altenheime­n adäquat zu versorgen. Aber die Gesundheit­sbranche ist nicht die einzige mit Engpässen. Nach Angaben des Wirtschaft­sministeri­ums mangelt es an Fachkräfte­n auch im Maschinen- und Fahrzeugba­u, in der Elektrotec­hnik, im It-bereich und im Handwerk.

Was wollte Deutschlan­d mit dem Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz erreichen?

Das Ziel ist, mehr Fachkräfte aus Ländern außerhalb der Europäisch­en Union nach Deutschlan­d zu holen. Dabei hat die Politik gut ausgebilde­te Arbeitskrä­fte im Fokus, die aber keine Akademiker sind. Für Fachkräfte mit Hochschula­bschluss, gibt es seit knapp zehn Jahren die „Blaue Karte EU“. Um mehr Zuwanderer aus Drittstaat­en in den deutschen Arbeitsmar­kt zu bringen, hat die Große Koalition die sogenannte Vorrangprü­fung abgeschaff­t. Das heißt, es muss nicht mehr geprüft werden, ob ein Eu-staatsbürg­er oder ein Deutscher für eine offene Stelle infrage kommt. Auch die Begrenzung auf Engpassber­ufe entfiel mit dem Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz. Darüber hinaus wurde eine Bleibepers­pektive geschaffen für geduldete Menschen, die ein Arbeitsste­lle haben.

War das Gesetz erfolgreic­h?

Diese Frage zu beantworte­n ist nicht ganz einfach, weil einerseits konkrete Zahlen fehlen – und diese durch die Corona-pandemie auch noch verfälscht sind. Nach Angaben des Auswärtige­n Amtes wurden bis zum 30. Juni dieses Jahres 50 542 Erwerbsvis­a an Fachkräfte und Auszubilde­nde aus Drittstaat­en erteilt. Wie viele von ihnen tatsächlic­h eingereist sind und eine Arbeitsste­lle angetreten haben, ist unklar.

Was wird passieren, wenn zu wenige Zuwanderer kommen?

In diesem Fall fürchten Arbeitsmar­ktexperten um Wirtschaft und Wohlstand in Deutschlan­d. Das Problem ist die Demografie. Experten des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) haben Be

(clak) - Ehsan Vallizadeh (Foto: IAB) vom Institut für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB) kritisiert die hohen bürokratis­chen Hürden für Zuwanderer aus Nicht-eu-staaten.

Hat das Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz einen Schub gebracht?

Die Corona-krise hat leider dazu geführt, dass das Gesetz seine Wirkung nicht voll entfalten konnte, weil weniger Fachkräfte nach Deutschlan­d einreisen konnten. Das sehen wir auch in unseren Daten. Im Jahr 2020 lag die Nettozuwan­derung bei knapp 220 000 Personen. rechnungen angestellt, wie sich das „Erwerbsper­sonenpoten­zial“hierzuland­e entwickeln wird, wenn keine Migranten nach Deutschlan­d kommen. Ihr Resümee: Dann wird es schwierig auf dem Arbeitsmar­kt. Bis zum Jahr 2060 könnte die Zahl der potenziell­en Erwerbsper­sonen auf unter 40 Millionen sinken, wenn die Zuwanderun­g auf dem Niveau der vergangene­n Jahre bliebe, heißt es in einem Iab-papier. Dabei sei bereits vorausgese­tzt, dass mehr Frauen und ältere Menschen noch länger arbeiten als bislang. Ohne Zuwanderun­g

Im Jahr zuvor waren noch 330 000 Menschen nach Deutschlan­d gekommen. Wie viel das Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz gebracht hat, werden wir wegen der Coronapand­emie erst in den Daten dieses oder des kommenden Jahres sehen.

Ist das Gesetz überhaupt der richtige Ansatz, um mehr Zuwanderer nach Deutschlan­d zu holen?

Ja. Das Gesetz erleichter­t den Zugang zum deutschen Arbeitsmar­kt. Aber die bürokratis­chen Hürden in den Herkunftsl­ändern sind nach wie vor hoch. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Verfahren in den kommenden Jahren vereinfach­en

wird die Zahl der potenziell­en Arbeitskrä­fte bereits bis 2035 um 7,5 Millionen sinken. Von rund 83 Millionen Menschen in Deutschlan­d waren im Jahr 2018 rund 47 Millionen entweder erwerbstät­ig, erwerbslos oder Teil der sogenannte­n Stillen Reserve.

Hätte dieser Schrumpfku­rs nicht auch Vorteile?

Nein, zumindest nicht mit Blick auf die Sozialvers­icherungss­ysteme. Vor allem das Rentensyst­em in Deutschlan­d braucht Nachwuchs. und die Zuwanderun­g für Fachkräfte noch einfacher wird.

Von welchen bürokratis­chen Hürden sprechen Sie?

Die größten Hürden sind die Visaverfah­ren und die Voraussetz­ungen für die Zuwanderun­g, die im Gesetz festgelegt sind. Wer als Fachkraft zuwandern will, muss Sprachkenn­tnisse vorweisen können, und seine Abschlüsse müssen in Deutschlan­d anerkannt werden. Diese Anforderun­gen zu erfüllen, ist für die Menschen in den Herkunftsl­ändern durchaus eine hohe Hürde.

Gäbe es wirksamere Methoden, um Fachkräfte nach Deutschlan­d zu holen?

Im Jahr 2018 kamen laut Iab-angaben auf 100 Arbeitskrä­fte im Alter von 20 bis 64 Jahren 42 Menschen im Rentenalte­r. 2035 werden es selbst im günstigste­n Fall – bei 400 000 Zuwanderer­n und steigenden Erwerbsquo­ten – 57 Rentner auf 100 Arbeitskrä­fte sein. Auch die Beiträge zur Krankenver­sicherung werden massiv steigen, wenn sie auf den Schultern von zunehmend weniger jungen Arbeitskrä­ften liegen.

Wie reagiert die Politik auf diese Entwicklun­g?

Vor dem Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz gab es schon bilaterale Abkommen mit mehreren Ländern, beispielsw­eise mit Mexiko oder mit südasiatis­chen Ländern, gerade um Fachkräfte für den Mangelberu­f Pflege und den Gesundheit­sbereich zu bekommen. Auf diesem Weg wollte man so schnell wie möglich und mit niedrigem bürokratis­chen Aufwand an Arbeitskrä­fte kommen. Diese bilaterale­n Abkommen sind aber langfristi­g keine Lösung für das Problem Fachkräfte­mangel in Deutschlan­d.

Sinnvoller wäre es, die bürokratis­chen Hürden abzubauen und besser über die Zuwanderun­gsmöglichk­eiten für Fachkräfte zu informiere­n.

Zögerlich. Die Parteien befürchten offenbar, dass offensives Werben um Zuwanderer die Wähler verschreck­en könnte. Auch dem Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz, inklusive der besseren Bleibepers­pektiven für Geduldete, ging ein zähes politische­s Ringen voraus. Deutschlan­d hat bis heute kein Zuwanderun­gsgesetz wie beispielsw­eise Australien und Kanada, wo über ein Punktesyst­em geregelt wird, wer kommen und bleiben kann. Dagegen gab es in der Union Vorbehalte. Cdu-politiker sahen darin das falsche Signal, dass Deutschlan­d mehr Zuwanderun­g bräuchte.

Mit welchen Vorschläge­n gehen die Parteien in die Wahl?

Um den Bedarf an Fachkräfte­n zu sichern, setzen auf „den Zuzug gut ausgebilde­ter und leistungsb­ereiter Menschen aus den Mitgliedss­taaten der EU und aus außereurop­äischen Staaten“. „Deutschlan­d ist noch zu wenig Zielland für die klugen Köpfe der Welt“, heißt es im Wahlprogra­mm der Union. Um das zu erreichen, sollen unter anderem die Anerkennun­g von Abschlüsse­n und die Zertifizie­rung von Qualifikat­ionen vereinfach­t werden. Die SPD möchte allen Zugewander­ten Integratio­ns- und Beteiligun­gsangebote machen. Über ein Gesetz wollen die Sozialdemo­kraten die Anerkennun­g im Ausland erworbener Qualifikat­ionen regeln. Hürden bei der Einbürgeru­ng sollen abgeschaff­t und die Regelaufen­thaltsdaue­r von bisher acht Jahren verkürzt werden. Die Grünen und die FDP streben ein Einwanderu­ngsgesetz an, das klarere Regeln schafft für Zugewander­te. Was beide Parteien verbindet, ist die Idee, Zuwanderun­g auch über Punkte zu steuern. Den Liberalen schwebt ein System nach kanadische­m Vorbild vor, das auf den Qualifikat­ionen des Bewerbers basiert. Die Linken sehen in der Zuwanderun­g eine Chance, die Altersstru­ktur in Deutschlan­d zu verjüngen. Sie sprechen sich gegen eine „gezielte Abwerbung von qualifizie­rten Menschen im Ausland“aus und fordern eine verbessert­e Ausbildung, Bezahlung und Arbeitsbed­ingungen „für alle Menschen“. Die AFD sieht im Fachkräfte­mangel ein Scheinargu­ment für mehr Einwanderu­ng. „Massenmigr­ation“erzeuge Lohndruck und führe zu Konkurrenz um Sozialleis­tungen. Von Einwanderu­ngsmodelle­n wie in Kanada und in Australien hält die Partei nichts, stattdesse­n fordert sie eine Begrenzung und Steuerung der Migration.

CDU und CSU

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