Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Hauen und Stechen um Un-klimabericht
Vor der Konferenz in Glasgow beharren viele Staaten auf ihren umweltschädlichen Interessen
- Zehn Tage vor Beginn der Un-konferenz COP26 in Glasgow gibt es ernste Zweifel an der Bereitschaft der Teilnehmerstaaten, die Klimakrise ernst zu nehmen. Zehntausende interne Dokumente des Weltklimarates IPCC verdeutlichen die intensive Lobby-arbeit führender Co2-sünder aus allen Teilen der Welt. So verteidigt der Industriestaat Australien seine Kohleproduktion, das Schwellenland Indien möchte die Atomkraft gefördert sehen, die Öl-förderländer Saudi-arabien und Norwegen wehren sich gegen die angestrebte Vermeidung fossiler Brennstoffe. Die Kommentare der Mitgliedsstaaten seien „Teil eines ganz normalen Überprüfungsprozesses“, teilte der IPCC dem Sender BBC mit.
Dem 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Weltklimarat gehören knapp 3000 Fachleute an. Gemeinsam erarbeiten sie Sachstandsberichte, die im Abstand von einigen Jahren die aktuelle Situation darstellen und den Un-mitgliedern als Richtschnur für ihr Handeln dienen sollen. Derzeit wird heftig um die Formulierungen im sechsten Bericht gerungen, wie der Leak an die britische Sektion der Umweltorganisation Greenpeace verdeutlicht. Die Äußerungen der Arbeitsgruppe zur Bewältigung des Klimawandels sollen im kommenden Jahr veröffentlicht werden.
Im Vorfeld von COP26 herrscht zwischen den Beteiligten ein heftiges Hauen und Stechen über die Maßnahmen, die nötig sind, um das erklärte Ziel zu erreichen: die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Die mehr als 32 000 internen Dokumente ließen Einblicke zu, wettert Jennifer Morgan von Greenpeace, „wie eine kleine Gruppe von Staaten den Profiten umweltschädlicher Branchen Vorrang einräumt vor der Zukunft unseres Planeten“.
Zu den wichtigsten notwendigen Schritten zur Reduzierung von Klima-belastenden Schadstoffen gehört nach Meinung der meisten Wissenschaftler die möglichst rasche Abschaltung von Kohle-kraftwerken – eine Schlussfolgerung, die ein australischer Regierungsvertreter möglichst aus dem Dokument tilgen will. Ohnehin gehöre sein Land nicht auf die Liste der größten Kohle-produzenten und -Konsumenten. Dabei war der fünfte Kontinent im Zeitraum seit 2018 nicht nur der weltweit fünftgrößte Kohleförderer. Australien gehört auch auf den Bevölkerungsanteil bezogen zu den schlimmsten Co2-sündern der Welt. Indien, zweitgrößter Verbraucher von Kohle, sieht den stark verschmutzenden Brennstoff noch auf Jahrzehnte hinaus als wesentlichen Bestandteil der eigenen Stromerzeugung.
Anstatt fossile Brennstoffe zu vermeiden, wollen die Lobbyisten der Öl- und Kohleförderer sowie -Verbraucher – darunter die Diktaturen Saudi-arabien und China – die bisher teure und weltweit wenig erprobte Technik der CO
(Carbon Capture and Storage ,kurz CCS) besser gefördert sehen. In diesem Sinne argumentiert Saudiarabien gegen die Formulierung im Berichtsentwurf, wonach der Abbau und Verbrauch fossiler Brennstoffe „rasch“zugunsten erneuerbarer Energien eingestellt werden solle.
Wie die neue Technologie CCS findet auch die friedliche Nutzung der Atomkraft Fürsprecher, darunter die zentraleuropäischen Eu-mitglieder Polen, Tschechien und Slowakei. „Beinahe alle Kapitel“des Entwurfs seien der Kernkraft gegenüber voreingenommen, klagt Indien. Dabei handele es sich um eine „erprobte Technik mit verbreiteter politischer Akzeptanz, von wenigen Staaten abgesehen“. Zu Letzteren zählen in der EU Deutschland und Österreich.
Wie die Öl-exporteure vertreten auch die lateinamerikanischen Produzenten von Fleisch und Tierfutter ihre nationalen Interessen. Brasilien und Argentinien wollen von einer Bewegung hin zu einer stärker auf Pflanzen beruhenden Ernährung nichts wissen. In Buenos Aires hält man sogar die internationale Kampagne „Montag ohne Fleisch“(Meatless Monday) für „voreingenommen“.
Unterdessen herrscht im Gastgeberland offener Streit innerhalb der Regierung von Premier Boris Johnson, wie die ehrgeizigen Ziele der am Dienstag veröffentlichten Dekarbonisierungspolitik denn erreicht werden können. Während der Regierungschef vor allem auf die Privatwirtschaft und die „kreative Kraft des Kapitalismus“setzt, warnt Finanzminister Rishi Sunak vor gewaltigen Milliarden-mindereinnahmen bei der Mineralölsteuer.