Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Vom Autoboss zum Angeklagten
Wegen des Abgasskandals stehen Ex-audi-chef Rupert Stadler und drei weitere Angeklagte in München vor Gericht – Von Angstkultur, Druck und dem Nährboden für Betrug
- Vom mächtigen Audiboss zum simplen Angeklagten im Abgasskandal um Dieselmotoren: Gegen 9.15 Uhr betritt Rupert Stadler den Saal des Landgerichts München II. Es ist ein Dienstag im Oktober. Stadler kommt unscheinbar daher: dunkelblaue Jacke mit Ellbogenschützer, weißes Hemd und schwarze Hose. Über die Schulter trägt der 58-jährige ehemalige Topmanager einen jugendlich wirkenden Umhängebeutel für Unterlagen. Gleichzeitig wirkt Stadler gealtert. Die früher zu beobachtende Spannkraft scheint erloschen zu sein. Ein ständiger Prozessbeobachter meint dazu: „Stadler hat sich verändert. In den vergangenen Monaten ist er verschlossen geworden.“Habe man mit ihm zuvor in Sitzungspausen noch lockere Worte wechseln können, so sei dies nun passé.
Erklären kann sich der Prozessbeobachter die Veränderung nicht. Da Stadler tatsächlich nicht für einige Worte bereit steht, bleibt nur die Spekulation. Womöglich ist es einfach tiefe Frustration. Der Prozess hat nach jetziger Planung grob seine Halbzeit erreicht. Seit mehr als einem Jahr strukturiert er seine Woche. Bis Ende 2022 wird das wohl so bleiben. Das bedeutet Dienstag und Mittwoch jedes Mal die Fahrt vom Eigenheim nach München. Das Ziel: noch düsterer als man es eigentlich erwarten könnte.
Der Gerichtssaal liegt nämlich im Gefängnis Stadelheim. Betonmauern und Stacheldraht fallen einem ins Auge. Wo verhandelt wird, herrscht schlichte Amtsatmosphäre. Hier will die Wirtschaftskammer des Landgerichts feststellen, ob Stadler tatsächlich des Betrugs, der mittelbaren Falschbeurkundung und der strafbaren Werbung schuldig ist. Zumindest lautet so die Anklage der Staatsanwaltschaft.
Der Prozess in München ist dabei nur einer von mehreren juristischen Versuchen, die Gaunereien bei vermeintlich sauberen Dieselmotoren aufzuklären. Publik geworden waren sie am 18. September 2015. Von der Us-umweltbehörde kamen Anschuldigungen gegen die Audimutter VW. Grenzwerte für den Ausstoß giftiger Stickoxide sollten demnach bei dem Wolfsburger Konzern jahrelang nur durch manipulierte Motoren eingehalten worden sein.
Grob beschrieben war bei den Dieselautos auf dem Prüfstand alles für eine Fahrzeugzulassung in Ordnung. Anders beim Straßenbetrieb. Ausgefuchste Technik stoppte das Säubern der Emissionen, weil sonst kundenunfreundliche Installationen im Auto nötig gewesen wären – etwa riesige Behältnisse für ein Abgasreinigungsmittel auf der Basis von Harnstoff, als Adblue bekannt.
Die Amerikaner hatten den Betrug zuerst am Motor EA 189 entdeckt, eingebaut in Vw-autos für den Us-markt. Bedeutende Teile davon waren aber Jahre zuvor bei Audi für den gesamten Volkswagenkonzern mitentwickelt worden. Weshalb die Ermittler die Keimzelle der ganzen Affäre beim Ingolstädter Autobauer verorten.
Das Gericht will nun mit Blick auf Stadler feststellen, ab wann diesem die Manipulationen bekannt waren. Bei einer Aussage zu Jahresbeginn hat dieser gemeint, viel zu spät. Er schob den Motorenentwicklern den Schwarzen Peter zu. Ihnen habe es an Unrechtsbewusstsein gefehlt: „Tarnen und Täuschen war lange Teil einer Arbeits-, vielleicht auch einer Angstkultur.“
Berüchtigt war bei Audi sowie der Konzernmutter VW über lange Jahre der sogenannte Schadenstisch. Wer mit der Arbeit nicht weiterkam, musste dort sein Produkt vorlegen – und wurde nach betriebsinternen Angaben zusammengefaltet. Vorgesetzte hätten auf Biegen und Brechen Erfolgsmeldungen verlangt – darunter auch gute Nachrichten über den Dieselmotor, der allen Abgasnormen entsprechen sollte.
Wer hat aber zu welchem Zeitpunkt was getan? Gute Frage. Welche Kreise die Ermittlungen ziehen, zeigt schon, dass die Staatsanwaltschaft allein bei Audi mehr als 40 Beschuldigte festgemacht hat. Der jetzige, auf bisher 181 Verhandlungstage angesetzte Prozess ist erst ein Anfang der Aufklärung. Wobei Stadler längst nicht die zentrale Rolle spielt. Momentan wirkt er wie an den Rand gedrängt. Dies hat ein Stück weit mit den drei weiteren Angeklagten in diesem Verfahren zu tun – und den jeweiligen beruflichen Schwerpunkten.
Obwohl 2007 zum obersten Audi-mann berufen, hat Stadler nicht viel mit Fahrzeugtechnik am Hut. Er ist gelernter Betriebswirt. In seiner Rolle als Vorstandschef wird ihm bescheinigt, in erster Linie Verkäufer gewesen zu sein. Indes sind seine Co-angeklagten studierte Ingenieure und Autospezialisten, also kundig, wenn Basteleien an Motoren im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Da ist zum einen Wolfgang Hatz, früher einmal Leiter der Aggregateentwicklung bei Audi. Dann kommt Giovanni Pamio Zaccheo, einst Chef der Abteilung „Thermodynamik, OBD, Abgasnachbehandlung“. Er hat gestanden, bereits früh mit Manipulationen am Schummelmotor EA 189 beschäftigt gewesen zu sein. Was zur Belastung für Hatz geworden ist, weil dessen Verteidigungsstrategie darauf beruht, dass all die Trickserei erst nach seiner Zeit bei Audi geschehen sei. 2007 war er von dort zu VW gegangen und später noch zum Vorstand bei Porsche aufgestiegen. Im selben Jahr hatte aber bereits die offizielle Vorstellung des EA 189 stattgefunden. Bei der Motorenentwicklung war Hatz also noch bei Audi gewesen.
Er und Zaccheo sollen sich inzwischen spinnefeind sein, wird aus Kreisen von Prozessbeobachtern berichtet. Speziell Hatz dürfte auch dem Vierten im Quartett höchst verärgert gegenüberstehen. Dieser ist der Unterste in der einstigen Hierarchie-ebene. Er war gerade mal Leiter der Unterabteilung „Abgasnachbehandlung“.
Auf ihn wird in der Öffentlichkeit Rücksicht genommen und sein Name nur abgekürzt genannt: Henning L.
Auch er belastet Hatz stark. Zudem hat L. noch weitere Manager unter der Vorstandsebene ins Visier der Justiz gebracht. Seine Verteidigungslinie sieht dabei folgendermaßen aus: Er habe in seiner untergeordneten Position gar nicht die Kompetenz gehabt, um über die Technik in Motoren oder mögliche Gesetzesverletzungen zu entscheiden.
Andere Beschuldigte im Gesamtkomplex des Abgasskandals wollen ebenso nur Befehlsempfänger gewesen sein. Weshalb der Vorsitzende Richter Stefan Weickert im Audiprozess erfahren will, wie die Entwicklungsingenieure gearbeitet haben – und zwar längst berüchtigt detailverliebt, als säße man in einem Proseminar für Motorenbau. „Mühevollste Kleinarbeit“, haben Verteidiger des Quartetts bereits gestöhnt.
Es ist Weickerts erster großer Fall, seit er der Wirtschaftskammer vorsitzt. Zuvor war der Jurist vor allem in Zivilkammern und bei Drogenprozessen tätig gewesen.
Wie er nun in seinem neuen Gebiet vorgeht, lässt sich beim Prozessbesuch im Oktober rasch eruieren. Im Zeugenstand ist erneut ein Vertreter aus der Reihe der Ingenieure, einer von Dutzenden. Ab 2004 war der Mann bei der Dieselmotorenentwicklung eingesetzt gewesen. Weickert befragt ihn, als habe er das Fachchinesisch der Autobauer gelernt. Ständig fallen Kürzel wie
GE05. Es steht für eine Modellnummer. Chemische Prozesse und Formeln werden angesprochen. Es ist von „Mono-turbo“die Rede und von „Akustikfunktion“.
Dass sich ausgerechnet hinter der Geräuschtechnik die Trickserei verbirgt, ist für Laien immer wieder überraschend. Ursprünglich sollte sie bei einem neu entwickelten Dieselmotor unangenehme Akkustik vermindern. Die dort versteckte Software erkennt aber, ob ein Fahrzeug auf dem Prüfstand steht oder nicht. Entsprechend kann sie den Stickoxid-ausstoß des Motors verringern – oder auch nicht. Der von Weikert befragte Ingenieur sagt: „Das war Stand der Technik, dass man so arbeitet.“Emissionen habe man eben einhalten müssen – irgendwie. Wobei der Zeuge immer stärker seine Hände windet und öfters einen Schluck aus der Wasserflasche nimmt – wie zur Beruhigung.
Letztlich gibt aber auch er zu, dass nicht alle Motorenentwickler ohne Rücksicht auf eventuelle rechtliche Folgen getüftelt haben. „Es gab schon Abteilungsleiter, die warnten.“Einer davon soll von „einem Gschmäckle“geredet haben. Dies greift der Vorsitzende Richter auf. Er versucht weiter, den Zeugen zu konkreteren Aussagen zu bewegen. Die Befragung zerläuft aber erneut in Motorendetails.
„Bisher ging es nur um Daten und technische Applikationen“, hat Gerichtssprecher Florian Gliwitzky kürzlich fast schon ermüdet festgestellt. Im Spätsommer schrieb eine bayerische Tageszeitung, der Prozess laufe so „zäh wie Schweröl“. Durchaus passende Worte – und naheliegend, dass es Ex-chef Stadler genau so empfindet. Zeuge um Zeuge sagt aus, meist Menschen, die weit unterhalb seiner Vorstandsebene gearbeitet haben und ihm völlig unbekannt sind. Ihre Aussagen betreffen technische Themen, mit denen er nie direkt befasst war.
Beobachtet man den früher so mächtigen Mann auf der Anklagebank eine Zeit lang, fällt auf, dass ihm immer wieder am Kopf, vor allem im Gesicht, ein unkontrolliertes Zucken unterläuft. Manchmal macht er sich Notizen, selten wechselt er Worte mit seinen beiden Verteidigern. Auch dies war anfangs anders gewesen. In den ersten Monaten des Sitzungsmarathons hat Stadler noch die Staatsanwaltschaft attackiert. Sie würde ihn politisch instrumentalisieren, ihn „als Galionsfigur“
für den Prozess missbrauchen.
Seine Verteidiger haben früh gefordert, das Verfahren gegen Stadler von dem der anderen drei abzutrennen. Der Vorsitzende Richter Weickert wollte nicht. Immerhin hatte er jedoch für Stadler schon früh eine frohe Botschaft. Nach vorläufiger Einschätzung des Gerichts sei dieser kein aktiver Manipulator gewesen. Es habe ihm bloß an einer angemessenen Aufklärung gefehlt. Außerdem sei der Vertrieb manipulierter Autos ab Herbst 2015 in Europa fortgesetzt worden. Stadler habe dies wider besseren Wissens nicht verhindert. Was zusammengenommen nach einer glimpflichen Strafe klingen könnte.
Weitaus mehr Ungemach droht hingegen seinem Vorgänger bei Audi: Martin Winterkorn, der 2007 zur Konzernmutter VW wechselte und dort auf dem Chefsessel Platz nahm. Er sowie vier weitere ehemalige Volkswagen-beschäftigte sind vor dem Landgericht Braunschweig angeklagt. Der Vorwurf: Verdacht des schweren gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs. Auftakt des Verfahrens war im September, jedoch ohne Winterkorn. Er braucht eine neue Hüfte, weshalb sein Prozess vom Gericht zurückgestellt worden ist – zum öffentlich kundgetanen Widerwillen der Staatsanwaltschaft.
Immerhin hatte Winterkorn während der Entwicklung des fragwürdigen Motors EA 189 noch das Ruder bei Audi in der Hand. Sie startete 2005. Von 2002 an war er Chef in Ingolstadt. Und anders als Stadler ist Winterkorn promovierter Techniker und einst gefeierter Autoentwickler. Ein Mann vom Fach, dem zwar nicht vorgeworfen wird, selber der Manipulator zu sein. Die Staatsanwaltschaft glaubt aber, Winterkorn habe spätestens ab Mai 2014 von der Software-trickserei gewusst und sich mit Kollegen verschworen, um die Us-geschäfte aus Gewinnsucht weiterlaufen zu lassen.
Ihm könnten bis zu zehn Jahre Gefängnis drohen. In einer Zelle einsitzen wäre neu für Winterkorn. Stadler wiederum musste es bereits erleben. Noch als Audi-chef war er im Juni 2018 verhaftet und in Untersuchungshaft gebracht worden. Die Staatsanwaltschaft sah Verdunklungsgefahr gegeben, konnte sich also vorstellen, dass Stadler ins Ausland flieht. Sie warf ihm zudem vor, Versuche zur Zeugenbeeinflussung unternommen zu haben.
Während er hinter Gittern saß, trennte sich auch Audi von ihm. Erst nach vier Monaten öffneten sich die Gefängnistore wieder. Wofür Stadler eine Kaution in unbekannter Höhe hinterlegen musste. Kontakte zu Ex-kollegen und Mitarbeitern wurden ihm untersagt. Diesen Sommer erreichte er wenigstens eine finanzielle Einigung mit seinem früheren Arbeitgeber: Für Schadenersatzansprüche bekommt Audi demnach von ihm 4,1 Millionen
Euro übertragen. Zivilrechtlich ist dies ein Schlussstrich. Nachforderungen entfallen – ganz gleich, wie der sich dahinschleppende Prozess in München ausgeht.
Wobei das Verfahren für Stadler demnächst im Spätherbst durchaus an Spannung gewinnen könnte: Wenn das Ingenieurkapitel endlich abgearbeitet ist und Zeugen aus Audis Marketingabteilung auftreten.
Interessant ist nicht nur, was ihnen generell bekannt war. Sie könnten des Weiteren erzählen, wie man auf die verfehlten Abgaswerte reagiert und was man der Öffentlichkeit erzählt hat. „Dies betrifft dann Stadlers ureigenstes Gebiet als oberster Audi-verkäufer“, heißt es aus dem Kreis der Prozessbeobachter.