Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Alptraum und Realität im russischen Winter
Schostakowitschs Jugendwerk „Die Nase“eröffnet den Premieren-reigen an der Bayerischen Staatsoper
- Es ist kalt in St. Petersburg, Eisangler fischen Leichenteile aus der Newa und spielen sie sich wie Bälle zu – das ist die bittere Realität in der Alptraumwelt des Majors Kovaljov, dem seine Nase abhandengekommen ist und der beim Versuch, sie wiederzufinden, auf groteske Hindernisse stößt.
Es ist auch kalt für einige Kulturschaffende in Russland, besonders für den Regisseur Kirill Serebrennikov, der das Land immer noch nicht verlassen darf und der seine Inszenierungen mit seiner Schar von Assistenten per Videoschaltung und durch Proben vor Ort in Moskau realisiert hat. Für den Dirigenten Vladimir Jurowski wirkt diese Arbeitsweise wie eine Fortsetzung der, wie er sagt, „Mischung aus Gesellschaftssatire, absurder Komödie und existenzialistischer Tragödie“, die der Oper zugrunde liegt.
Nikolaj Gogol hat mit seiner satirischen Novelle „Die Nase“in den 1830er-jahren die literarische Vorlage geliefert und darin das Beamtentum der Zeit unter Zar Nikolaus I. karikiert. Der 22-jährige Komponist Dmitri Schostakowitsch verwandelte die Novelle 90 Jahre später mit drei Freunden in ein Libretto, kurz nach Abschluss seiner Kompositionsstudien ist die Musik die eines „jungen Wilden“schroffer und revolutionärer noch als manches spätere Werk aus Schostakowitschs Feder. Vladimir Jurowski tritt mit diesem spannenden Frühwerk sein Amt als
Generalmusikdirektor in der Nachfolge von Kirill Petrenko an, nachdem man ihn bereits im Frühjahr mit einer Neuproduktion des „Rosenkavaliers“in einer coronabedingt kleiner besetzten Orchesterfassung und nur online erleben konnte.
Der russische Dirigent mit dem schmalen Gesicht und den fast schulterlangen schwarz-grauen Haaren hat viele Jahre das Glyndebourne Festival und das London Philharmonic Orchestra geleitet. Vor einigen Jahren konnte man ihn mit diesem Orchester in Friedrichshafen mit einer glühenden Interpretation von Beethovens Eroica in der üppigen Instrumentation durch Gustav Mahler erleben – unvergesslich in ihrer Verbindung von Klangfülle und Transparenz. Außerdem ist er Chefdirigent des Rundfunksinfonieorchesters Berlin und international als Orchesterund Operndirigent gefragt.
Der Titel „Generalmusikdirektor (GMD)“ist ihm allerdings suspekt, klingt er doch zu militärisch und beamtenfixiert: Die drei Buchstaben möchte er, wie er in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk sagte, eher mit „Geburtshelfer“, „Musik“und „Dienen“übersetzen – im Dienste des Komponisten will der 49-jährige sprachbegabte Künstler die Musik wiederbeleben.
Die farbenreich besetzte Partitur von Schostakowitsch vermittelt Jurowski dem Bayerischen Staatsorchester und den zahlreichen Solistinnen und Solisten in jedem Fall in all ihrer Urkraft und Energie. Volksmusikinstrumente wie Domra und
Balalaika sind darin ebenso vertreten wie mehrfach besetzte Holz- und Blechbläser, allein neun Schlagwerker (in einem musikalischen Zwischenspiel sind sie, gekleidet in
Kampfanzüge, auf der Bühne) oder eine „singende Säge“mit ihrem speziellen näselnd weinenden Klang. Trotz der großen Enge im Graben wirkt das Orchester erstaunlich transparent und beweglich, es wird zum Spiegel für die zahlreichen kurzen Szenen und Begegnungen.
Viele Ensemblemitglieder gestalten in diesem personalintensiven Werk mehrere kleine Rollen, allen voran Anton Rositskiy mit seinem hellen hohen Tenor als „Nase“, die sich selbstständig gemacht hat und als Staatsrat durch die Stadt spaziert. Sein Gegenspieler Kovaljov, eigentlich der „Eigentümer“der Nase, wird eindringlich von Bariton Boris Pinkhasovich verkörpert. Seine Suche nach der Nase wird zum Kampf gegen die Windmühlen des Polizeistaates, den Serebrennikov hier auf die Bühne bringt.
In der Fülle der Personen und der Kuriosität des Themas ist es schwierig, den Überblick zu behalten, zumal die Typen in ihren Uniformen und Kostümen kaum zu unterscheiden sind. Serebrennikov spinnt die Absurdität noch weiter, indem Kovaljov der Einzige ist, der nur eine Nase hat, alle anderen mit ihren auf Bänder und Masken geklebten Gebilden aber mehrere Nasen ihr eigen nennen. Es geht ums Anderssein, um den Verlust der Persönlichkeit, und das wird lustvoll ausgelebt. Die musikalisch und szenisch pralle Produktion wurde vom Publikum bejubelt, der Regisseur grüßte per Video.
„Die Nase“-inszenierung wird am Mittwoch, 27. Oktober, live im Radio Br-klassik übertragen und ist ab Anfang November auch auf www.staatsoper.tv zu sehen.