Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Gemeinsam gegen Gewalt und Respektlosigkeit
Gesellschaftliche Verrohung und psychiatrischer Auftrag war Thema der Ethiktagung des ZFP
(sz) - Gibt es eine Zunahme von Gewalt und Aggression in der Gesellschaft? Und wie gehen Kliniken, Justiz und Polizei sowie Gemeinden mit eskalierenden Vorfällen und Übergriffen um? Über diese Fragen diskutierten die Teilnehmenden der Ethiktagung in Zwiefalten. Verschiedene Referierende schilderten ihre Sichtweisen aus ihrem Berufsalltag.
Das ZFP Südwürttemberg veranstaltete zusammen mit der Pp.rt Reutlingen unter 3G-bedingungen die 31. Tagung psychiatrische Ethik in der Rentalhalle. Das Thema „Gesellschaftliche Verrohung und psychiatrischer Auftrag“wurde aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. „Die Gewaltbereitschaft und die Aggressivität in der Gesellschaft haben in den letzten Jahren zugenommen“, sagte Prof. Dr. Gerhard Längle, Regionaldirektor Alb-neckar im ZFP Südwürttemberg und Geschäftsführer der Pp.rt sowie Gp.rt Reutlingen, in seiner Ansprache. Als Beispiele zog er die Angriffe auf Rettungskräfte im Ahrtal heran, die Ausschreitungen bei Querdenkerdemos und schließlich als Spitze von Hass und Hetze den Mord an einem jungen Tankstellenmitarbeiter.
„Wir sind in den Kliniken von gewalttätigen Vorfällen mit betroffen“, betonte Längle. Die Psychiatrie sei ein Spiegel der Gesellschaft. In den Kliniken würden Entwicklungen und Effekte wie in einem Brennglas verstärkt werden und früher und deutlicher zu Tage treten. Was sind die Gründe für Gewalttätigkeit? Ist diese in psychischen Erkrankungen begründet? Wann ist ein psychisches Leiden nicht ausschlaggebend? Und wie kann es sein, dass voll schuldfähige Straftäter in Kliniken für Forensische Psychiatrie untergebracht werden, obwohl keine Therapiemotivation besteht? Die Gesellschaft frage sich, wer sie vor Menschen mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten mit oder ohne psychische Erkrankungen schütze. Diese und weitere Fragen warf Längle zur Klärung auf.
Welche Aufgaben die Psychiatrie eigentlich hat, erläuterte Prof. Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des ZFP am Standort
Weissenau. Steinert nahm Bezug auf das geltende Psychisch-krankenhilfe-gesetz in Baden-württemberg. Der Experte verglich dieses mit der Rechtslage in anderen Bundesländern und kam zu dem Schluss, dass das baden-württembergische Gesetz überarbeitet werden müsste. Dies könne den Missbrauch von psychiatrischen Hilfesystemen für reine Ordnungsmaßnahmen vermeiden. Denn häufig würden Menschen in der Psychiatrie untergebracht, deren aggressives Verhalten nicht aufgrund einer psychischen Erkrankung vorliegt. „Es werden uns Menschen zugewiesen, die nicht führbar sind“, so der Psychiater. Vor allem in den Forensischen Kliniken sei die Bettensteigerung problematisch und berge ein hohes Konflikt- und Gewaltpotenzial.
An diesen Punkt knüpfte Dr. Udo Frank, Zentralbereichsleiter Maßregelvollzug im ZFP, an. Er ging auf die rechtlichen Rahmenbedingungen ein und erklärte, wann jemand im Maßregelvollzug untergebracht wird. Er stellte klar: „Die Mehrzahl der psychisch kranken Menschen ist nicht aggressiv auffällig. Die meisten gewalttätigen Menschen sind im Strafvollzug untergebracht, nicht in der Psychiatrie.“Als Problem schilderte Dr. Frank verhaltensauffällige Menschen, die nicht wegen einer seelischen Erkrankung immer wieder straffällig werden, und trotzdem in den Maßregelvollzug eingewiesen werden. Es komme durch diese Personen häufig zu Übergriffen auf Klinikpersonal. Der Experte kritisierte, dass von Mitarbeitenden angezeigte Taten von der Justiz nicht so verfolgt würden wie beispielsweise Angriffe auf Rettungsdienst und Polizei.
Welche Probleme mit psychisch auffälligen Menschen die Polizei in ihrer täglichen Arbeit beschäftigen, schilderte der Leiter des Polizeireviers Reutlingen, Kriminalinspektor Heiko Kächele. In der Polizeiausbildung nehme der Umgang mit psychisch auffälligen Menschen einen großen Teil ein, die Polizeikräfte würden in deeskalierendem Verhalten geschult. In Reutlingen gebe es täglich acht bis zehn Einsätze mit psychischem Sachverhalt.
Dass es auch zu gewalttätigen Übergriffen innerhalb der Psychiatrie kommt, beschrieben die Ärztlichen Direktoren Dr. Hubertus Friederich und Dr. Frank Schwärzler anhand von Praxisbeispielen. „Manche Problemfälle bringen uns an die Grenzen unseres therapeutischen Selbstverständnisses und unserer Empathiefähigkeit“, sagte Schwärzler nachdrücklich. Manche Behandelte würden keine Regeln akzeptieren und, um ihre Forderungen zu erpressen, andere Mitpatienten aufwiegeln oder bedrohen und das Personal beschimpfen und angreifen – ohne, dass dieses Verhalten in der Erkrankung begründet ist. „Es ist nur ein kleiner Teil der Behandelten, der auffällig ist und gewalttätig wird“, betonte Friederich. Bei Vorfällen werde klar gemacht: Die Psychiatrie ist kein rechtsfreier Raum und respektloses Verhalten wird nicht toleriert. Taten werden vom Personal angezeigt, Sachbeschädigungen werden den Verursachenden in Rechnung gestellt. Ein Behandlungsabbruch mit der Aufforderung, die Sachen zu packen sowie die Aussprache von Hausverboten seien ebenfalls möglich. Auch dann würden Mitarbeitende oft noch bedroht und die Polizei eingeschaltet.
In einer Podiumsdiskussion wurde erörtert, ob gewalttätige Vorfälle zunehmen und welche Lösungsstrategien es geben könne. Die Beteiligten waren sich insgesamt einig, dass es keine reale Zunahme der gewalttätigen Vorfälle gebe. Es werde mehr und öfter über Fälle von Gewalt und Aggression gesprochen und berichtet, Statistiken und Kriminalitätsberichte lägen jedoch keine Zunahme nahe. Dr. Petra Zahn, Chefärztin der Klinik für interdisziplinäre Notfallmedizin der Kreiskliniken Reutlingen, berichtete von einem gewachsenen Bewusstsein bei Übergriffen gegen Hilfskräfte und meinte: „Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen.“Die verbale Rohheit nehme zu und Respektlosigkeit werde extremer, berichtete Kächele. Gründe seien eine fehlende soziale Kontrolle sowie ein gesellschaftlicher Wertewandel. „Es ist unser aller Aufgabe, wieder mehr Respekt herzustellen“, so der Polizeidirektor.
Zum Schluss entstand noch ein reger Austausch mit dem Publikum. Der Pflegedirektor der Zwiefalter Klinik Ralf Aßfalg meinte, dass die subjektive Verrohung zunehme. Er betonte, dass Übergriffe auf Mitarbeitende jedoch häufiger würden. „Ein Teil der Patienten ist heute extrem gewaltbereit, das kenne ich so von früher nicht“, so der langjährige Zfp-mitarbeiter. Gründe sieht er in einer gestärkten Patientenautonomie und dass Zwangsmaßnahmen erst gerichtlich geprüft werden müssen. Ein anderes Statement vonseiten der Pflegenden lautete: „Es gibt weniger Personal bei mehr Dokumentationsaufgaben. Da bleibt weniger Zeit für die Patienten.“