Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Blinde Passagiere

Olivia und Darius sehen fast nichts – Mithilfe der Bahnhofsmi­ssion kommen sie von Stadt zu Stadt

- Von Sebastian Mayr

Sechs Minuten Zeit für den Weg von Gleis 3 Nord bis Gleis 6 Süd. Eine Treppe runter, eine Treppe rauf. 100 Meter, vielleicht ein bisschen mehr. Aber für Olivia sieht eine schlecht beleuchtet­e Treppe aus wie eine Rampe. Olivia sieht fast nichts, die Zugfahrt von Stuttgart nach Illertisse­n schafft sie ohne Hilfe nicht. Noch nicht.

Die 16-Jährige aus Illertisse­n geht seit ein paar Wochen in Stuttgart zur Schule, die Stiftung Nikolauspf­lege hat dort eine Einrichtun­g für blinde und sehbehinde­rte Jugendlich­e. Nach ihrem Sonderberu­fsvorberei­tungsjahr will Olivia eine Ausbildung machen. Sie denkt an einen Bürojob, Dialogmark­eting würde ihr gefallen oder ein anderer Beruf, bei dem sie viel mit Menschen zu tun hat. Jetzt lässt sich Olivia jeden Sonntagabe­nd mit dem Auto nach Stuttgart fahren, am Freitagnac­hmittag geht es mit dem Zug zurück. Darius, ein Jahr älter und ebenfalls aus Illertisse­n, ist immer mit dabei.

Darius hat seinen Blindensto­ck schon seit ein paar Jahren, er ist schneller unterwegs als Olivia und geht beim Umstieg am Ulmer Hauptbahnh­of voraus. Der Regionalex­press aus Stuttgart hat sieben Minuten Verspätung. Die Zeit für den Umstieg ist deshalb knapp. An einem anderen Tag wäre sie wohl zu knapp. Doch an diesem Freitag haben die beiden Jugendlich­en zwei Begleitper­sonen dabei und nicht bloß eine. Der Mann hakt Darius unter, die beiden marschiere­n zügig voran. Darius Stock schrappt in einem Halbkreis über den Boden. Olivia und die Frau gehen hinterher. Langsamer, vorsichtig­er. Olivia lernt den Umgang mit dem Stock erst noch, an diesem Tag hat sie ihn nicht dabei. Die 16-Jährige sieht mehr als ihr Mitschüler, rund 20 Prozent beträgt ihre Sehkraft. Darius ist fast komplett blind. Während er vorangeht, wird für sie an der Treppe alles schwarz. „Wenn ich vom Hellen ins Dunkle gehe, muss ich erst einmal stehen bleiben, dann ist alles weg“, erzählt Olivia. „Wenn an einer Treppe keine Markierung­en sind, dann geht es da für mich einfach nur bergab.“

Bergab also, so schnell es eben geht, eingehakt bei ihrer Begleiteri­n. Der Zug bleibt länger stehen, wenn die Fahrerin oder der Fahrer Darius und Olivia und die blauen Westen der Bahnhofsmi­ssion sehen. Aber auf den Bahnsteig müssen sie es rechtzeiti­g schaffen. Die Frau und der Mann in den blauen Westen sind Kathrin G. aus Senden und Christian Kalbitz aus Winnenden. Sie ist eine erfahrene Begleiteri­n der Bahnhofsmi­ssion, eine von zweien in Ulm. Sie hat Kinder, Menschen mit Behinderun­g und alte Leute begleitet. Sie war in Köln, im hessischen Bensheim, in Homburg an der Saar.

„Das ist das Ehrenamt, das auf mich gewartet hat“, sagt die 72-Jährige, die ihren vollen Namen nicht im Artikel lesen möchte. Donnerstag­s arbeitet sie in der Bahnhofsmi­ssion in Ulm. Schenkt Kaffee aus, schmiert Brote, hört sich die Sorgen einsamer Rentner an, hilft Reisenden beim Umstieg und gestrandet­en, verzweifel­ten Passagieri­nnen. „Die Leute denken oft, dass wir nur mit Obdachlose­n und Junkies zu tun haben. Aber das stimmt nicht“, sagt Kathrin G. Ein- bis zweimal im Monat begleitet sie Menschen, die nicht alleine Zug fahren können. „Bahnhofsmi­ssion mobil“heißt dieses Angebot.

Als die beiden Jugendlich­en vor dem Stuttgarte­r Hauptbahnh­of aus dem Bus steigen, umarmt Kathrin G.

Olivia. Christian Kalbitz klopft Darius auf die Schulter. Dann geht es los. Erst für ein in Plastik verpacktes Schokotört­chen in die dortige Bahnhofsmi­ssion, dann zu Gleis 15. Kalbitz ist erst seit Kurzem bei der Stuttgarte­r Bahnhofsmi­ssion, er hospitiert auf der Strecke nach Illertisse­n. Künftig wird er alleine als Begleiter unterwegs sein. So wie Kathrin G. bei anderen Fahrten, so wie sie auch schon mit Olivia und Darius gereist ist. Zwei, die nicht oder fast nicht sehen können. Zwei, die einen Rollkoffer hinter sich herziehen. Dann muss eine oder einer am Fuß der Treppe warten. Zwei Menschen mit Koffern kann Kathrin G. nicht gleichzeit­ig über die Stufen helfen. Sechs Minuten würden für den Umstieg in Ulm nicht genügen. Diesmal geht alles gut.

Darius und Olivia haben sich erst in Stuttgart kennengele­rnt, obwohl beide im gleichen Ort leben. Sie schon lange, er seit drei Jahren. Da ist seine Familie aus Barcelona nach Schwaben gezogen. Heute zählt Darius auch Olivias Namen auf, wenn er über seine Freunde und Freundinne­n in Deutschlan­d spricht. Auf der Zugfahrt feuern die beiden Anekdoten ab: Es geht ums Verschlafe­n, ums Schnarchen, um die Schule, um Handys. Kathrin G. und Christian Kalbitz hören zu.

Der Zugbegleit­er, der nicht allen Fahrgästen gegenüber charmant ist, lächelt der Reisegrupp­e zu, das ist trotz Maske zu erkennen. Fahrschein­e will er nicht sehen, die blauen Westen genügen ihm.

Darius hat einen kaputten Nerv im Auge. Auf der rechten Seite, sagt er, könne man vielleicht noch was machen. Auf der linken Seite nicht. Trotzdem schaut er sich Serien auf Netflix an. Manchmal sieht er etwas, manchmal hört er nur zu. Olivia hat das Bardet-biedl-syndrom: kurze

Finger, sechs Zehen an jedem Fuß und geringe Sehkraft, die noch weiter nachlassen kann. Mit den Händen formt sie einen Kasten vor ihrem Kopf: knappe zehn Zentimeter nach rechts, links, oben, unten. „So sehe ich“, sagt sie. Die 16-Jährige geht gerne ins Kino, ins Neu-ulmer Dietrichth­eater. In der letzten Reihe ist sie so weit weg, dass die Leinwand in ihr Sichtfeld passt.

Olivia trainiert bei der Nikolauspf­lege, sich alleine im Verkehr zurechtzuf­inden. Sie hat schon Einund Aussteigen in der S-bahn geübt. Bald wird sie eine Probefahrt allein mit dem Bus machen, ein Betreuer wird hinterherf­ahren. Wenn sie abends in einen Bus steigen muss, nimmt sie eine Taschenlam­pe mit. Die Zugfahrt könnte sie alleine nicht bewältigen, noch nicht. „Zum Glück gibt es die Bahnhofsmi­ssion“, findet Olivia. Die Fahrten selbst will sie später ohne Begleitung schaffen. Nur für den Weg zum Gleis wird sie auch in Zukunft die Hilfe der Bahnhofsmi­ssion brauchen.

Darius hat sich schon alleine in einem Bahnhof bewegt, erzählt er. In Barcelona, wo die Familie vorher wohnte und er die Wege auswendig kannte. „Ich kann mich an den Leuten orientiere­n und an den Durchsagen“, sagt er. Aber: „Mit der Begleitung ist es besser“" Darius fährt gerne Bahn, er hat keine Lust auf Staus. „Wenn ich die Chance habe, auch am Sonntag mit dem Zug zu fahren, mache ich das“, verkündet er. Bislang wechseln sich seine und Olivias Eltern mit dem Auto ab.

15.38 Uhr, die Regionalba­hn hält pünktlich in Illertisse­n. Darius Mutter und Olivias Vater warten am Bahnsteig, am Sonntag geht es mit dem Wagen zurück zur Schule. Und am Freitag darauf dürfen die beiden wieder in den Zug steigen.

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FOTO: ANDREAS BRÜCKEN Mitarbeite­r der Bahnhofsmi­ssion begleiten Menschen mit Sehbehinde­rung beim Zugfahren.

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