Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ballkünstler
Damals und heute – Hinter den Kulissen der Fußballproduktion
Immer dann, wenn Schäfer nach innen flankt, Rahn aus dem Hintergrund schießen müsste und die Reporterstimme von Herbert Zimmermann überschnappt, als das Leder zum 3:2 im linken Toreck der Ungarn einschlägt, erfasst Gerhard Domke dieses Gefühl. Ein Gefühl, das ihm Tränen in die Augen treibt. Vielen ergeht es so, wenn sie die Bilder vom Wm-endspiel 1954 sehen. Doch Gerhard Domke, Jahrgang 1930, hat eine besondere Beziehung zum Wunder von Bern. Er hat den Ball genäht, mit dem Deutschland Fußballweltmeister wurde.
Kurz nach dem Krieg fertigte Domke im Alter von 18 Jahren bei der Firma Bierstedt Otto Steinhagen in der Nähe von Bielefeld seinen ersten Lederball. Damals war das ein übersichtlicher Vorgang ohne große Technik, Geheimnisse und chemische Formeln: Um eine Gummiblase mit einem einfachen Ventil wurden 32 Lederteile – zwölf Fünfecke und 20 Sechsecke – mit einer groben Nadel zusammengenäht. Das Ventil wurde von außen mit Schnüren angenäht, was beim Kopfball nicht selten zu Schürfwunden führte. Erst später, gegen Ende der 1950er-jahre, als die Blase innen angeklebt wurde und ohne Schnüre hielt, erkannte man Kopfballspezialisten nicht mehr an ihrer aufgerissenen Stirn.
Was sich einfach anhört, erforderte großes handwerkliches Geschick. Das Herberger’sche Diktum vom Ball, der rund sei, stellte für damalige Ballmacher eine Herausforderung dar. „Das Problem war, den Ball rund zu bekommen, dass er nicht daherrollt wie ein Kürbis“, erzählt Domke. Damit das Leder sich nicht mehr groß verziehen konnte, wurde es vorher auf einer Walze gestreckt. Geliefert wurde das Rindsleder aus Gerbereien am Niederrhein. Mit einem Quadratmeter Haut, der bis zu 40 Mark kostete, konnten zehn bis zwölf Bälle gefertigt werden. Für jeden brauchte Domke drei bis vier Stunden.
„Ein Ball war ein Ball, der brauchte keinen Namen“, sagt er, „es war schon etwas Besonderes, wenn man überhaupt einen hatte.“Über heutige Kunststoffkugeln fällt er ein hartes Urteil: „Das sind keine Bälle.“Für ihn muss ein Ball nach Leder riechen, nach Lederfett, damit er sich bei Nässe nicht vollsaugt. Er muss mit der Zeit die Farbe wechseln, vom hellen Braun ins Dunkelbraune. An den Grasflecken erkennt man, wie alt er ist. Mit synthetischen Produkten aus dem Labor, die eine aerodynamische Außenhaut haben, in denen ein Gegengewicht zum Ventil die Flugbahn stabilisiert, kann der letzte lebende deutsche Ballmacher, der noch das alte Handwerk beherrscht, nicht viel anfangen.
Domke arbeitete 37 Jahre lang als Ballkünstler. Bis 1985 blieb die Firma führend in der Produktion von Fußbällen, jährlich stellten zehn Ballmacher bis zu 100 000 Stück her – auch für die Bundesliga. In Hochzeiten und bei starker Nachfrage wurden in Sonderschichten bis zu 80 Bälle produziert. Doch schon gegen Ende der 1970er-jahre zeichnete sich ab, dass die Produktionskosten von bis zu 30 Mark in Deutschland zu hoch wurden, obwohl manche Firma bereits kostengünstig in Gefängnissen nähen ließ. Billiger Kunststoff verdrängte das Leder. Die Arbeiten wurden ins Ausland verlagert. Das handwerkliche Geschick und Können von Domke waren auf einmal nicht mehr gefragt. Die Maschinen wurden nach Pakistan verkauft. „Ich habe sie selbst auf den Lastwagen geladen“, erzählt er wehmütig.
Seither kommt der Ball aus Sialkot. Diese Industriestadt liegt im Norden von Pakistan. Hier werden zwei Drittel der Weltproduktion an Fußbällen hergestellt. Das sind rund 40 Millionen Bälle im Jahr. Diese haben jetzt Namen und Markenzeichen. Nike und Adidas, Puma und Derbystar, alle lassen hier nähen. In der für pakistanische Verhältnisse wohlhabenden Region Sialkot arbeiten 35 000 Menschen in der Fußballindustrie.
Bei der Firma
Forward
Sports kommt es jeden Samstag zu einer Fernbegegnung mit Europa.
Der Boss des Nähzentrums sitzt hinter seinem abgewetzten Schreibtisch und zahlt die Löhne aus. Für jeden genähten Fußball gibt es 41 Rupien, das sind rund 60 Cent. In einer guten Woche kommt ein Arbeiter auf umgerechnet 25 Euro. An der kahlen Wand hängt ein Poster mit David Beckham. Der Fußballstar, der in den Nullerjahren auf ein Jahreseinkommen von über 20 Millionen Euro kam, hält fünf Bälle in der Hand und lächelt auf die Näher herunter. (...)
Forward Sports fertigt in vielen Werkstätten für Adidas. In der Näherei im Dorf Motra sitzen 30 Mann auf niedrigen Schemeln und alle machen den ganzen Tag die gleichen Handgriffe: zwei Nadeln gegenläufig durch die Löcher in den weißen Sechsecken schieben, den Faden um die breiten Lederringe an den Mittelfingern wickeln und die
Naht strammziehen. Arme bewegen sich geschmeidig und lautlos, aus einem Radio kommt schmachtende Musik, an der Decke rühren
Ventilatoren in der
aufgepumpt und kommen zur Qualitätskontrolle in die Zentrale. (...)
Als die pakistanische Ministerpräsidentin Benazir Bhutto 1995 die Vereinigten Staaten besuchte, zeigten Menschenrechtler dort einen Dokumentarfilm über die Kinder im Punjab, die Bälle nähen mussten. „Noch in der Nacht rief mich mein Handelsagent aus den USA an“, erinnert sich Khawaja Zakauddin, „er war sehr aufgeregt.“Zakauddin ist Eigentümer der Firma Capital Sports. Rasch erkannte er, dass der Druck des Westens seiner Industrie das Genick brechen könnte. „Es war eine Forderung der Kunden, unsere Produktion transparent zu machen“, sagt Zakauddin. Die weitere Geschichte ist ein Musterbeispiel dafür, was Druck der Verbraucher in der globalisierten Wirtschaft bewirken kann.
1997 unterzeichnete die Handelskammer von Sialkot gemeinsam mit Unicef und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO das sogenannte Atlanta-abkommen. Darin verpflichteten sich die Beteiligten, die Kinderarbeit in
der
Fußballindustrie von Sialkot abzuschaffen. „Das taten wir nicht nur aus Großzügigkeit“, sagt Zakauddin nüchtern, „für unser Geschäft ging es ums Überleben.“(...) Für pakistanische Verhältnisse sind die Bauern im Punjab wohlhabend. Breite Flüsse bringen das Schmelzwasser des Himalaja in das Fünfstromland, Kanäle, so breit wie Fußballfelder, führen auch dann noch Wasser in Hülle und Fülle, wenn die Temperaturen weit über 40 Grad steigen. Schwarze Büffel werden zur Tränke geführt, der Weizen wächst, und die Bauern sind stolz darauf, dass sie den besten Basmatireis Pakistans anbauen. Das Bällenähen war seit Jahrzehnten ein gutes Zubrot, das man sich in Heimarbeit verdienen konnte. Das Pro-kopfeinkommen in der Region Sialkot ist doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. „Für viele Eltern war es einfacher, ihre Kinder zum Nähen zu schicken als in die Schule“, erklärt Nasir Dogar. „Sie sagten sich: Wenn mein Kind zehn Jahre in die Schule geht und dann keine gute Stelle findet, ist es für die Handarbeit verdorben.“
Was Gerhard Domke in Steinhagen erlebte, wiederholt sich in den Nullerjahren in Sialkot: Handarbeit wird zu teuer. Um gegenüber den Chinesen, die den Weltmarkt mit maschinengenähten Billigbällen überschwemmen, konkurrenzfähig zu bleiben, wird rationalisiert. Statt jedes Fünfeck einzeln mit einer Schablone zu färben, arbeitet bei Forward Sports eine Presse, die davor in Deutschland Adidas-bälle bedruckt hat. Die Firma experimentiert mit halbautomatischen Nähmaschinen. 23 Produktionslinien arbeiten parallel. In der Qualitätssicherung donnert eine Schussmaschine einen Testball 2000-mal mit 80 Stundenkilometern gegen eine Stahlplatte. Ein Metalldetektor durchleuchtet dann jeden Ball auf abgebrochene Nähnadeln. Das sogenannte Glanzometer prüft, ob das Polyurethan genug glitzert.
Trotz aller Anstrengungen durfte Pakistan schon bei der Weltmeisterschaft 2006 nicht mehr mitspielen. Für das Sommermärchen in Deutschland ließ Adidas den Ball mit dem schönen Namen „Teamgeist“in Thailand produzieren. Seine Hülle wurde nicht mehr genäht, sondern in einem thermischen Verfahren geklebt.
Für das Weltturnier in Katar hat China das Rennen gemacht. Dort wird ein Ball mit einem arabischen Namen hergestellt. Er heißt „Al Rihla“– die Reise. Seine Oberfläche besteht aus Polyurethan, 20 Plastikplatten werden thermisch verklebt. In der Werbung zieht Adidas alle Register: Der Neue soll schneller fliegen als jeder bisherige Ball. Er ist auch nicht bloß ein Ball – es handelt sich um ein mit Korrektheit aufgeladenes Objekt. Der General Manager Football des Weltkonzerns verweist auf Farben und Klebstoffe – alle auf Wasserbasis hergestellt. In seiner Pressemitteilung vergisst er auch nicht das Gendersternchen, wenn er verspricht, dieser Ball werde weltweit die Chancengleichheit für Fußballer*innen verbessern. „Al Rihla“kostet 150 Euro. Für dieses Geld bekommt der globalisierte Freizeitkicker aber nicht etwa den geklebten, originalen Wm-ball aus China, sondern ein maschinengenähtes Replikat aus Pakistan.
Im Gegensatz zu Leder nimmt Kunststoff kein Wasser auf. Bei Regen wird der Ball nicht schwerer, die Spieler müssen sich nicht mehr an verändertes Flugverhalten anpassen. Gerhard Domke betrachtet diesen Fortschritt skeptisch. Er sagt: „Nicht nur das Wesen des Balles hat sich durch seine Produktionsweise verändert. Sondern auch der Fußball, der damit gespielt wird. Dadurch hat das Spiel einiges von seinem Zauber verloren.“Er pflegt als Rentner im Westfälischen unerschütterlich die Tradition. Noch heute vertrauen ihm Sammler alte Lederbälle zur Reparatur an. Für sie restauriert er Erinnerungen an unvergessliche Spiele, schöne Tore und großartige Siege. Gerhard Domke ist mittlerweile schon über 90. So alt wird heute kein Ball mehr.
„Was denkt der Ball? Warum Fußball mehr als Kicken ist“. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 152 Seiten, 18 Euro.