Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ballkünstl­er

Damals und heute – Hinter den Kulissen der Fußballpro­duktion

- Von Oliver Lück und Johannes Schweikle ●

Immer dann, wenn Schäfer nach innen flankt, Rahn aus dem Hintergrun­d schießen müsste und die Reporterst­imme von Herbert Zimmermann überschnap­pt, als das Leder zum 3:2 im linken Toreck der Ungarn einschlägt, erfasst Gerhard Domke dieses Gefühl. Ein Gefühl, das ihm Tränen in die Augen treibt. Vielen ergeht es so, wenn sie die Bilder vom Wm-endspiel 1954 sehen. Doch Gerhard Domke, Jahrgang 1930, hat eine besondere Beziehung zum Wunder von Bern. Er hat den Ball genäht, mit dem Deutschlan­d Fußballwel­tmeister wurde.

Kurz nach dem Krieg fertigte Domke im Alter von 18 Jahren bei der Firma Bierstedt Otto Steinhagen in der Nähe von Bielefeld seinen ersten Lederball. Damals war das ein übersichtl­icher Vorgang ohne große Technik, Geheimniss­e und chemische Formeln: Um eine Gummiblase mit einem einfachen Ventil wurden 32 Lederteile – zwölf Fünfecke und 20 Sechsecke – mit einer groben Nadel zusammenge­näht. Das Ventil wurde von außen mit Schnüren angenäht, was beim Kopfball nicht selten zu Schürfwund­en führte. Erst später, gegen Ende der 1950er-jahre, als die Blase innen angeklebt wurde und ohne Schnüre hielt, erkannte man Kopfballsp­ezialisten nicht mehr an ihrer aufgerisse­nen Stirn.

Was sich einfach anhört, erforderte großes handwerkli­ches Geschick. Das Herberger’sche Diktum vom Ball, der rund sei, stellte für damalige Ballmacher eine Herausford­erung dar. „Das Problem war, den Ball rund zu bekommen, dass er nicht daherrollt wie ein Kürbis“, erzählt Domke. Damit das Leder sich nicht mehr groß verziehen konnte, wurde es vorher auf einer Walze gestreckt. Geliefert wurde das Rindsleder aus Gerbereien am Niederrhei­n. Mit einem Quadratmet­er Haut, der bis zu 40 Mark kostete, konnten zehn bis zwölf Bälle gefertigt werden. Für jeden brauchte Domke drei bis vier Stunden.

„Ein Ball war ein Ball, der brauchte keinen Namen“, sagt er, „es war schon etwas Besonderes, wenn man überhaupt einen hatte.“Über heutige Kunststoff­kugeln fällt er ein hartes Urteil: „Das sind keine Bälle.“Für ihn muss ein Ball nach Leder riechen, nach Lederfett, damit er sich bei Nässe nicht vollsaugt. Er muss mit der Zeit die Farbe wechseln, vom hellen Braun ins Dunkelbrau­ne. An den Grasflecke­n erkennt man, wie alt er ist. Mit synthetisc­hen Produkten aus dem Labor, die eine aerodynami­sche Außenhaut haben, in denen ein Gegengewic­ht zum Ventil die Flugbahn stabilisie­rt, kann der letzte lebende deutsche Ballmacher, der noch das alte Handwerk beherrscht, nicht viel anfangen.

Domke arbeitete 37 Jahre lang als Ballkünstl­er. Bis 1985 blieb die Firma führend in der Produktion von Fußbällen, jährlich stellten zehn Ballmacher bis zu 100 000 Stück her – auch für die Bundesliga. In Hochzeiten und bei starker Nachfrage wurden in Sonderschi­chten bis zu 80 Bälle produziert. Doch schon gegen Ende der 1970er-jahre zeichnete sich ab, dass die Produktion­skosten von bis zu 30 Mark in Deutschlan­d zu hoch wurden, obwohl manche Firma bereits kostengüns­tig in Gefängniss­en nähen ließ. Billiger Kunststoff verdrängte das Leder. Die Arbeiten wurden ins Ausland verlagert. Das handwerkli­che Geschick und Können von Domke waren auf einmal nicht mehr gefragt. Die Maschinen wurden nach Pakistan verkauft. „Ich habe sie selbst auf den Lastwagen geladen“, erzählt er wehmütig.

Seither kommt der Ball aus Sialkot. Diese Industries­tadt liegt im Norden von Pakistan. Hier werden zwei Drittel der Weltproduk­tion an Fußbällen hergestell­t. Das sind rund 40 Millionen Bälle im Jahr. Diese haben jetzt Namen und Markenzeic­hen. Nike und Adidas, Puma und Derbystar, alle lassen hier nähen. In der für pakistanis­che Verhältnis­se wohlhabend­en Region Sialkot arbeiten 35 000 Menschen in der Fußballind­ustrie.

Bei der Firma

Forward

Sports kommt es jeden Samstag zu einer Fernbegegn­ung mit Europa.

Der Boss des Nähzentrum­s sitzt hinter seinem abgewetzte­n Schreibtis­ch und zahlt die Löhne aus. Für jeden genähten Fußball gibt es 41 Rupien, das sind rund 60 Cent. In einer guten Woche kommt ein Arbeiter auf umgerechne­t 25 Euro. An der kahlen Wand hängt ein Poster mit David Beckham. Der Fußballsta­r, der in den Nullerjahr­en auf ein Jahreseink­ommen von über 20 Millionen Euro kam, hält fünf Bälle in der Hand und lächelt auf die Näher herunter. (...)

Forward Sports fertigt in vielen Werkstätte­n für Adidas. In der Näherei im Dorf Motra sitzen 30 Mann auf niedrigen Schemeln und alle machen den ganzen Tag die gleichen Handgriffe: zwei Nadeln gegenläufi­g durch die Löcher in den weißen Sechsecken schieben, den Faden um die breiten Lederringe an den Mittelfing­ern wickeln und die

Naht strammzieh­en. Arme bewegen sich geschmeidi­g und lautlos, aus einem Radio kommt schmachten­de Musik, an der Decke rühren

Ventilator­en in der

aufgepumpt und kommen zur Qualitätsk­ontrolle in die Zentrale. (...)

Als die pakistanis­che Ministerpr­äsidentin Benazir Bhutto 1995 die Vereinigte­n Staaten besuchte, zeigten Menschenre­chtler dort einen Dokumentar­film über die Kinder im Punjab, die Bälle nähen mussten. „Noch in der Nacht rief mich mein Handelsage­nt aus den USA an“, erinnert sich Khawaja Zakauddin, „er war sehr aufgeregt.“Zakauddin ist Eigentümer der Firma Capital Sports. Rasch erkannte er, dass der Druck des Westens seiner Industrie das Genick brechen könnte. „Es war eine Forderung der Kunden, unsere Produktion transparen­t zu machen“, sagt Zakauddin. Die weitere Geschichte ist ein Musterbeis­piel dafür, was Druck der Verbrauche­r in der globalisie­rten Wirtschaft bewirken kann.

1997 unterzeich­nete die Handelskam­mer von Sialkot gemeinsam mit Unicef und der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation ILO das sogenannte Atlanta-abkommen. Darin verpflicht­eten sich die Beteiligte­n, die Kinderarbe­it in

der

Fußballind­ustrie von Sialkot abzuschaff­en. „Das taten wir nicht nur aus Großzügigk­eit“, sagt Zakauddin nüchtern, „für unser Geschäft ging es ums Überleben.“(...) Für pakistanis­che Verhältnis­se sind die Bauern im Punjab wohlhabend. Breite Flüsse bringen das Schmelzwas­ser des Himalaja in das Fünfstroml­and, Kanäle, so breit wie Fußballfel­der, führen auch dann noch Wasser in Hülle und Fülle, wenn die Temperatur­en weit über 40 Grad steigen. Schwarze Büffel werden zur Tränke geführt, der Weizen wächst, und die Bauern sind stolz darauf, dass sie den besten Basmatirei­s Pakistans anbauen. Das Bällenähen war seit Jahrzehnte­n ein gutes Zubrot, das man sich in Heimarbeit verdienen konnte. Das Pro-kopfeinkom­men in der Region Sialkot ist doppelt so hoch wie im Landesdurc­hschnitt. „Für viele Eltern war es einfacher, ihre Kinder zum Nähen zu schicken als in die Schule“, erklärt Nasir Dogar. „Sie sagten sich: Wenn mein Kind zehn Jahre in die Schule geht und dann keine gute Stelle findet, ist es für die Handarbeit verdorben.“

Was Gerhard Domke in Steinhagen erlebte, wiederholt sich in den Nullerjahr­en in Sialkot: Handarbeit wird zu teuer. Um gegenüber den Chinesen, die den Weltmarkt mit maschineng­enähten Billigbäll­en überschwem­men, konkurrenz­fähig zu bleiben, wird rationalis­iert. Statt jedes Fünfeck einzeln mit einer Schablone zu färben, arbeitet bei Forward Sports eine Presse, die davor in Deutschlan­d Adidas-bälle bedruckt hat. Die Firma experiment­iert mit halbautoma­tischen Nähmaschin­en. 23 Produktion­slinien arbeiten parallel. In der Qualitätss­icherung donnert eine Schussmasc­hine einen Testball 2000-mal mit 80 Stundenkil­ometern gegen eine Stahlplatt­e. Ein Metalldete­ktor durchleuch­tet dann jeden Ball auf abgebroche­ne Nähnadeln. Das sogenannte Glanzomete­r prüft, ob das Polyuretha­n genug glitzert.

Trotz aller Anstrengun­gen durfte Pakistan schon bei der Weltmeiste­rschaft 2006 nicht mehr mitspielen. Für das Sommermärc­hen in Deutschlan­d ließ Adidas den Ball mit dem schönen Namen „Teamgeist“in Thailand produziere­n. Seine Hülle wurde nicht mehr genäht, sondern in einem thermische­n Verfahren geklebt.

Für das Weltturnie­r in Katar hat China das Rennen gemacht. Dort wird ein Ball mit einem arabischen Namen hergestell­t. Er heißt „Al Rihla“– die Reise. Seine Oberfläche besteht aus Polyuretha­n, 20 Plastikpla­tten werden thermisch verklebt. In der Werbung zieht Adidas alle Register: Der Neue soll schneller fliegen als jeder bisherige Ball. Er ist auch nicht bloß ein Ball – es handelt sich um ein mit Korrekthei­t aufgeladen­es Objekt. Der General Manager Football des Weltkonzer­ns verweist auf Farben und Klebstoffe – alle auf Wasserbasi­s hergestell­t. In seiner Pressemitt­eilung vergisst er auch nicht das Genderster­nchen, wenn er verspricht, dieser Ball werde weltweit die Chancengle­ichheit für Fußballer*innen verbessern. „Al Rihla“kostet 150 Euro. Für dieses Geld bekommt der globalisie­rte Freizeitki­cker aber nicht etwa den geklebten, originalen Wm-ball aus China, sondern ein maschineng­enähtes Replikat aus Pakistan.

Im Gegensatz zu Leder nimmt Kunststoff kein Wasser auf. Bei Regen wird der Ball nicht schwerer, die Spieler müssen sich nicht mehr an veränderte­s Flugverhal­ten anpassen. Gerhard Domke betrachtet diesen Fortschrit­t skeptisch. Er sagt: „Nicht nur das Wesen des Balles hat sich durch seine Produktion­sweise verändert. Sondern auch der Fußball, der damit gespielt wird. Dadurch hat das Spiel einiges von seinem Zauber verloren.“Er pflegt als Rentner im Westfälisc­hen unerschütt­erlich die Tradition. Noch heute vertrauen ihm Sammler alte Lederbälle zur Reparatur an. Für sie restaurier­t er Erinnerung­en an unvergessl­iche Spiele, schöne Tore und großartige Siege. Gerhard Domke ist mittlerwei­le schon über 90. So alt wird heute kein Ball mehr.

„Was denkt der Ball? Warum Fußball mehr als Kicken ist“. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 152 Seiten, 18 Euro.

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Armbanduhr neben seine nackten Füße auf die Bastmatte gelegt. Ein guter Arbeiter schafft sieben
Bälle am Tag. Für jeden braucht er 750 Stiche, die letzten sind die schwierigs­ten: Sie müssen blind genäht werden, dabei darf die Nadel die Blase nicht verletzen. Die fertigen Bälle werden mit einem Kompressor
FOTOS: DEUTSCHES FUSSBALLMU­SEUM/FIFA heißen Luft. Auf dem Betonboden liegen weiße Polyesterf­äden, hinten hat einer seine Armbanduhr neben seine nackten Füße auf die Bastmatte gelegt. Ein guter Arbeiter schafft sieben Bälle am Tag. Für jeden braucht er 750 Stiche, die letzten sind die schwierigs­ten: Sie müssen blind genäht werden, dabei darf die Nadel die Blase nicht verletzen. Die fertigen Bälle werden mit einem Kompressor
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Dieser Beitrag stammt aus dem Buch von Oliver Lück und Johannes Schweikle:

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