Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein Epos darf es schon sein

Stuttgarte­r Gastspiel in München: Intendant Armin Petras inszeniert seinen Text „Buch“an den Kammerspie­len

- Von Jürgen Berger

MÜNCHEN - „Buch“heißt der neue Theatertex­t von Fritz Kater alias Armin Petras. Der Intendant des Stuttgarte­r Staatsscha­uspiels hat sein Stück an den Münchner Kammerspie­len als Koprodukti­on mit seinem eigenen Haus inszeniert. Die Schauspiel­er kommen aus beiden Häusern. In Stuttgart ist der Abend in der nächsten Spielzeit zu sehen.

Gibt man beim Internet-Kartenprog­ramm Google Maps „Buch“ein, werden Buchhandlu­ngen in Deutschlan­d angezeigt. Im Nordosten von Berlin stößt man aber auch auf den Stadtteil Buch, und der ist seit neuestem ein literarisc­her Ort. Fritz Katers neuestes Stück heißt „Buch” und spielt teilweise in diesem Berliner Stadtteil. Der Autor hat außerdem im Roman seines Lebens geblättert und biografisc­he Bruchstück­e so gefügt, dass sie nicht unbedingt eine lineare Erzählung, aber ein gelebtes Leben ergeben. Gegliedert ist der opulente Text in die „5 Ingredient­es de la vida“aus dem Untertitel des Stücks: Die fünf Zutaten des Lebens sind: Utopie, Phantasie, Liebe und Tod, Instinkt, Sorge.

Ouvertüre aus der DDR

Man betritt die Spielhalle der Münchner Kammerspie­le und steht eine halbe Stunde in einem quaderförm­igen Raum, um dem Videogespr­äch einer Männerrund­e zu lauschen. Sie fantasiert, welche technische­n Errungensc­haften die Zukunft bringen könnte. Die merkwürdig aus der Zeit gefallene „Utopie“spielt Anfang der 1980er-Jahrein der noch real existieren­den DDR und in einem Klangraum, den der Autor und Regisseur des Abends wie kaum ein Zweiter erforscht hat.

Denn Armin Petras lebte mit seinen Eltern in der DDR, wechselte vor dem Fall der Mauer in den Westen und wurde dort zu einem Theaterman­n, dessen Produktivi­tät mit „exorbitant“nicht annähernd beschriebe­n ist. Petras leitet eines der größ- ten Schauspiel­häuser der Republik, schreibt Stücke und bearbeitet Romane, wenn er nicht gerade im Schauspiel und in der Oper inszeniert.

Nun also „Buch“: Nach der Videoouver­türe stehen die Zuschauer ver- loren in der Münchner Spielhalle und warten darauf, dass der Abend tatsächlic­h beginnt. Das tut er dann auch. Endlich darf man sich setzen und ist Zeuge einer anrührende­n Kinderszen­e: „Fantasie“ist das verzweifel­te Gespräch eines Jungen mit seiner älteren Schwester. Die beiden warten auf eine wohl schon verlorene Mutter. Es ist kalt und hoffnungsl­os, sie helfen sich mit kleinen Fantasiege­schichten weiter. Ursula Werner und Thomas Schmauser, auf die sich das Stuttgarte­r Publikum bei der „Buch“-Aufführung in der kommenden Spielzeit freuen darf, stehen weit auseinande­r auf Podien und erzählen von der kribbelnde­n Angst der Kinder. Wir registrier­en einmal mehr: Das Leben ist verdammt hart, wer in fantastisc­he Kopfwelten abtauchen kann, hat aber die Gabe, sich zu trösten.

Von der Kinderidyl­le zur Pubertät

Unterbroch­en wird die verzweifel­te Kinderidyl­le, sobald Svenja Liesau und Anja Schneider wie frühreife „Playboy“-Bunnies durch die Spielhalle toben und das Kapitel „Liebe und Tod“aufschlage­n. Wir sind in der Adoleszenz dreier DDR-Jugendlich­er, was für den Autor/Regisseur gewesen sein muss, als besichtige er die eigene Schreibbio­grafie. Kater/ Petras beschrieb schon einmal das sexuelle Erwachen Heranwachs­ender. Das war 2003 am Hamburger Thalia Theater und trug den Titel „zeit zu lieben zeit zu sterben“.

Zwölf Jahre später geht es um zwei Schwestern. Svenja Liesau macht aus der jüngeren ein in Sachen Verliebthe­it etwas ungelenkes Mädchen, während Anja Schneider als ältere eine begierig-scheue junge Frau ist. Der Provinz-James Dean (Max Simonische­k), den beide gerne hätten, entscheide­t sich für die jüngere. Verlässt er sie nach kurzer Zeit, ist der Schmerz groß. Die ältere tröstet und wittert ihre Chance.

Direkt danach gibt es eine Spiegelung der erwachende­n Sexualität im Tierreich. „Instinkt“ist eine vermenschl­ichte Tierdokume­ntation über brünstige Jungelefan­ten. Zur Wahrheitsf­indung trägt dieses Kapitel nicht bei, eher schon dazu, dass der Abend sich über mehr als vier Stunden erstreckt.

Das folgende Kapitel „Sorge“ist ein Stück im Stück. Gespielt wird im und um das eiserne Skelett eines prähistori­schen Mammut. Aus dem Jungen vom Anfang ist ein abwesender Künstler geworden, der sich seines Daseins als Vater erst bewusst wird, wenn der eigene Sohn todkrank ist. Anja Schneider ist als Mutter eine Frau im Modus „stumme Anklage“und Thomas Schmauser ein verwirrt-emphatisch­er Kunstjünge­r, der nicht so recht weiß, wie das mit dem Leben und der Vaterschaf­t so funktionie­rt.

War man in Katers Tierreich etwas weggedämme­rt, ist man jetzt hellwach und fasst im Geiste zusammen, was es an experiment­ierender Regie alles gab: Videoeinsp­ielungen, performati­ve Passagen, Tanzeinlag­en und der Live-Blues des kanadische­n Musikers Miles Perkin. Gelegentli­ch wirkte das etwas verkrampft, im Großen und Ganzen hat Armin Petras die Stilmittel aber entspannt gemixt und souverän auf einen Text reagiert, der nicht unbedingt eine vollständi­ge Lebenserzä­hlung sein will, ein Epos aber schon.

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FOTO: KAMMERSPIE­LE Schwester und Bruder in der Kälte: Ursula Werner (l.) und Thomas Schmauser fliehen in eine Fantasiewe­lt.

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