Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Enttäuschung naht
Vor allem Löws Jungstars müssen heute die Entscheidung des Bundestrainers fürchten
ASCONA (dpa/SID) - Joachim Löw verkündet sein Kaderurteil. Vier Fußball-Nationalspielern muss der Bundestrainer heute den Zutritt zum EM-Paradies verwehren. „Es wird schwierig, klar. Verdient hat es niemand, dass er nach Hause fahren muss“, sagte Löw, „alle Spieler haben ein sehr, sehr gutes Niveau.“Das für höhere Turnieransprüche untaugliche 1:3 beim verhagelten Probelauf gegen die Slowakei, bei dem in Augsburg nach einem Unwetter in der zweiten Spielhälfte praktisch nur noch Wasserball gespielt werden konnte, wird bei der Auslese 4 aus 27 nicht den Ausschlag geben.
Hinter verschlossenen Türen zog sich Löw am Montag mit seinem engsten Stab zur Beratung zurück. Ausgangspunkt aller Strategien und Personalkonstellationen werden für den erfahrenen Kaderplaner Löw seine Promi-Akteure mit Verletzungshandicap sein. Wie viel Sinn macht es, die maladen Weltmeister Mats Hummels und Bastian Schweinsteiger mit nach Frankreich zu nehmen? Wie schnell werden die angeschlagenen Marco Reus und Karim Bellarabi fit? „Wir müssen jetzt eine Standortbestimmung machen, wie es bei einigen Spielern aussieht“, sagte Löw zum Ablauf.
Zu einer Schlüsselfigur wird Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt. „Wenn mir unser verantwortlicher Arzt Müller-Wohlfahrt sagt, der Spieler wird die nächsten Wochen jetzt nicht belastbar sein, ist klar, dass ich mich danach ein bisschen ausrichte“, sagte Löw. „Ich möchte das Okay vom Arzt, dass es mit den betroffenen Spielern in den nächsten Wochen keine Probleme geben wird.“
Auf Müller-Wohlfahrts Prognosen war in der Vergangenheit absolut Verlass: Beim WM-Triumph 2014 schafften die im Vorfeld verletzten Philipp Lahm und Manuel Neuer auf den Punkt die Genesung. Auch Bayern-Kollege Schweinsteiger sowie Sami Khedira wurden nach Verletzungen im Turnierverlauf fit und in Brasilien noch zu Erfolgsgaranten.
Grübel, grübel und studier
Jetzt stellt Löw selbst seinem Kapitän keinen Freibrief aus. Er berichtete aber von weiteren kleinen Fortschritten des im EM-Jahr permanent verletzten Mittelfeldspielers. „Bastian war auch auf dem Platz und hat mit dem Ball gearbeitet.“Löw zweifelt und grübelt. Hummels, ursprünglich als Fixgröße im Abwehrzentrum neben Jérôme Boateng vorgesehen, kann nach einem Muskelfaserriss in der Wade selbst nicht einschätzen, wann er ins Turnier einsteigen könnte. „Vielleicht reicht es auch nicht für das zweite Spiel“, spekuliert der Neu-Münchner inzwischen schon.
Löw befindet sich in einer Zwickmühle. Andererseits ist die Kaderbesetzung auf den Feldspielerplätzen 18, 19, 20 kaum turnierentscheidend und bietet Spielraum für Risikobesetzungen mit Führungskräften wie Hummels oder Schweinsteiger. Die Turnierdebütanten Kevin Großkreutz, Erik Durm und Matthias Ginter wurden 2014 in Brasilien Weltmeister, ohne eine Minute auf dem Platz gestanden zu haben.
Das letzte Casting gegen den EMTeilnehmer Slowakei konnten gerade die jungen Spieler nicht wie gewünscht nutzen. Das lag einmal an den widrigen Bedingungen nach dem Unwetter, teils auch an den gezeigten Leistungen. Das Trio Joshua Kimmich, Julian Weigl und Julian Brandt belohnte Löw immerhin wie Torhüter Bernd Leno mit dem Länderspieldebüt. Mit „bedröppelten Gesichtern“hätten die Jungspunde, zu denen auch der Schalker Leroy Sané zählt, in der Kabine gesessen, berichtete Elfmeter-Torschütze Mario Gomez: „Sie haben sich das anders vorgestellt. Das ist die harte Schule des Fußballs.“
Die Torhüter sind fein raus
Löw übte Nachsicht. Er sprach von einer „gewissen Drucksituation“für die Jungen. „Logisch, dass da mal der eine oder andere Fehler passiert. Aber das will ich nicht überbewerten. Alle vier haben eine große Zukunft.“Schon in Frankreich? Das wollte Löw am Montag „ein bisschen diskutieren“. Er nahm auch den eingewechselten Marc-André ter Stegen in Schutz, dem beim dritten Gegentor ein weiterer Slapstick-Patzer im Nationaltrikot unterlief. „Der Platz war nass, der Ball rutschig. Das wird jetzt unser Vertrauen in ihn nicht beeinträchtigen“, erklärte Löw. Bangen müssen ter Stegen und Leno nicht; Löw hatte von vornherein neben Manuel Neuer nur zwei weitere Schlussmänner nominiert.
Die wichtigste Erkenntnis von Augsburg war ohnehin: Ohne die etablierten Kräfte wie Neuer, Müller und Özil ist in Frankreich nichts zu holen. Gute offensive Ansätze wurden zudem von Abwehrschwächen überlagert, die von Marek Hamsik, Michal Duris und Juray Kucka mit Gegentoren eiskalt bestraft wurden.
Alles nur Vorgeplänkel. „Die Vorbereitung auf das Turnier kann jetzt losgehen“, verkündete Torjäger Gomez einen Neustart nach der Kaderreduzierung. Weltmeister Khedira, der mit seinem 45-Minuten-Einsatz nach einer Wadenverletzung Löw die größten Sorgen im defensiven Mittelfeld nehmen konnte, machte eine klare Ansage im Hinblick auf den Ernstfall am 12. Juni in Lille gegen die Ukraine: „Fußballerisch können uns wenige Mannschaften das Wasser reichen. Aber wir müssen diesen Hunger entwickeln, jedes Spiel gewinnen zu wollen. Daran arbeiten wir.“