Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Das Bildungspaket ist zu bürokratisch“
beantragt werden – etwa ein Zuschuss fürs Schulmittagessen, 100 Euro im Jahr für Schulranzen, Hefte, Materialien oder auch monatlich bis zu 10 Euro für Beiträge in Sportverein oder Musikschule. Doch viele beantragen die Leistungen gar nicht, heißt es immer wieder. Für den Präsidenten des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, kein Wunder, sei das Ganze doch eine einzige bürokratische Antrags- und Kontrollveranstaltung.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sieht höhere Sozialleistungen als Mittel im Kampf gegen Kinderarmut skeptisch. „Die Verbesserung von Transferleistungen führt nicht dazu, dass strukturell das Problem wirklich gelöst wird“, sagte Nahles. Rund jedes siebte Kind in Deutschland ist laut Bundesagentur für Arbeit abhängig von Hartz IV. „Kinderarmut ist immer ein bedrückendes Phänomen“, sagte die Ministerin. „Kinderarmut ist aber vor allem Familienarmut.“Wichtig sei es, „einen oder am besten beide Elternteile in Arbeit zu bekommen“.
So könne der Teufelskreis von Erwerbslosigkeit und damit einhergehender Armut durchbrochen werden. Auch Verbesserungen bei der Kinderbetreuung seien ein Mittel, sagte sie mit Blick auf die Schwierigkeiten vor allem vieler Frauen, Job und Kind in Einklang zu bringen. BERLIN - Der Vorsitzende von Unicef Deutschland, Jürgen Heraeus (Foto: dpa), äußert sich im Gespräch mit Rasmus Buchsteiner zur Entwicklung, dass immer mehr Kinder auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind.
Besorgt Sie diese Entwicklung?
Es ist ein Alarmsignal, wenn trotz vergleichsweise guter Konjunktur ein so großer Teil der Kinder in Deutschland auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Trotzdem planen die Parteien vor der Bundestagswahl einen Wahlkampf zum Thema Rente. In einer alternden Gesellschaft entscheiden die Rentner die Wahl. Es muss endlich mehr getan werden, damit die Kinder am unteren Ende der Gesellschaft nicht noch weiter abgehängt werden.
Droht Armut vererbt zu werden?
Hauptursache von Kinderarmut ist die Arbeits- und Perspektivlosigkeit von Eltern. Materielle Einschränkungen sind dabei nur ein – wenn auch wichtiger – Aspekt. Armutserfahrungen sind dann besonders negativ für Kinder, wenn sie mindestens ein Drittel der Kindheit andauern. Das trifft auf viele Kinder von Alleinerziehenden und Langzeitarbeitslosen zu. Gelernte Hoffnungslosigkeit macht es schwer, Herausforderungen im weiteren Leben zu meistern.
Ist es Zeit, den Hartz-IV-Regelsatz für Kinder zu erhöhen und die Unterstützung des Bildungspakets auf den Prüfstand zu stellen?
Vor drei Jahren wurde eine Überprüfung der familienpolitischen Leistungen eingeleitet. Doch bis heute kann ich keine wirklichen Konsequenzen erkennen. Es muss ein Weg gefunden werden, jedem Kind in Deutschland – unabhängig von seiner Herkunft – eine materielle und kulturelle Grundsicherung zu geben. Das Bildungspaket ist offensichtlich zu bürokratisch und zu schwerfällig, um das dahinter stehende Ziel einer gerechteren Teilhabe zu erreichen.
Woran liegt der Anstieg?
Die Anstiege sind vor allem dort zu verzeichnen, wo wirtschaftliche Probleme anhalten und wo ein hoher Anteil von Menschen lebt, die auf dem Arbeitsmarkt als schwer vermittelbar gelten. In Ballungsräumen wie Berlin, wo rund ein Drittel der Kinder auf Hartz IV angewiesen ist, sind diese Probleme besonders groß. Man muss klar sehen: Auch unter schwierigen Bedingungen versuchen Eltern, das Beste für ihre Kinder zu tun, das gelingt auch oft. Trotzdem zeigen Untersuchungen, dass arme Kinder weniger Sport treiben, mehr fernsehen, häufiger rauchen und in der Schule weniger gut mitkommen.