Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Tuttlingen testet Online-Sprechstunde
Online- und Telefon-Sprechstunde wird im Landkreis getestet – Start im Herbst geplant
STUTTGART (tja) - Im Landkreis Tuttlingen können Bürger wohl ab Herbst per Telefon oder Internet Rat beim Arzt suchen. Damit gehört der Kreis neben Stuttgart zu einer von zwei Regionen in Baden-Württemberg, in denen das Modell getestet wird. Der Onlinearzt soll in dringenden Fällen Termine in einer Praxis vermitteln, die nahe am Wohnort des Patienten liegt. Derzeit werden Ärzte für das Projekt gesucht.
STUTTGART - Patienten im Landkreis Tuttlingen können voraussichtlich ab Herbst an einem bundesweit einmaligen Modellversuch teilnehme. Dabei erreichen sie per Telefon oder Internet einen Arzt. Das soll helfen, Notaufnahmen zu entlasten und Patienten Wege zu ersparen.
Tuttlingen gehört neben Stuttgart zu den zwei Telemedizin-Vorreitern im Land. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV), der alle niedergelassenen Kassenärzte angehören, plant das Projekt.
Testlauf für das ganze Land
Möglich wird das Vorhaben, weil die Ärzte in Baden-Württemberg ihre Berufsordnung geändert haben. Als erste in Deutschland erlaubt diese Behandlungen ausschließlich via Telefon oder Internet – allerdings nur bei Modellversuchen. Die Landesärztekammer als Hüterin der Berufsordnung muss jedes dieser Projekte genehmigen. Derzeit prüft sie den in Tuttlingen geplanten Versuch.
Kammer-Präsident Ulrich Clever ist zuversichtlich, dass der Versuch genehmigt wird. Dazu müssen einige Punkte erfüllt sein: ein guter Datenschutz, eine Dokumentation des Gesprächs, eine Haftpflichtversicherung. Außerdem müssen Ärzte ihre Patienten über die Begrenzung der Teleberatung informieren.
„Wir wollen testen, wie das Modell in einer Stadt und ländlichen Kreis funktioniert“, erläutert Tobias Binder von der KV. Diese hat das Modell entwickelt. Sie trägt die Kosten für Technik und Organisation. Geplant ist, ein Telemedizin-Zentrum einzurichten. Dort landen Anrufer, die eine kostenlose Telefonnummer wählen oder eine App auf ihrem Smartphone nutzen. Medizinische Fachangestellte klären dort erste Fragen zu Beschwerden des Patienten ab und nehmen dessen Daten auf.
Liegt ein Notfall vor, geht es direkt weiter zur Notrufzentrale. Ansonsten benachrichtigen die Angestellten einen Arzt, der irgendwo in BadenWürttemberg den Dienst als Telemediziner übernommen hat. Er meldet sich beim Patienten, entweder telefonisch oder via Videoanruf. Der Mediziner stellt eine Diagnose und vermittelt am selben Tag einen Termin in einer Haus- oder Facharztpraxis in der Nähe. Das geschieht jedoch nur in dringenden Fällen, der Dienst soll keine Terminvermittlung im großen Stil betreiben. Patienten aus anderen Kreisen dürfen das Angebot nutzen, können aber nicht an eine Praxis vermittelt werden.
Die KV sucht derzeit nach Ärzten, die den Dienst an der Hotline übernehmen. Dafür bekommen sie ein Honorar von den Krankenkassen. Außerdem informiert die KV noch im Juni niedergelassene Mediziner im Landkreis Tuttlingen. Sie sollen Patienten aufnehmen, die am Tag ihres Anrufs einen Termin benötigen.
Ärztekammer-Chef Clever fordert, dass Telemediziner Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen und Rezepte ausstellen können. Das verbietet derzeit ein Bundesgesetz. „Wir Ärzte werden ständig kritisiert, dass wir uns nicht modernisieren wollen, wenn wir es dann tun möchten, behindert man uns“, sagt Clever. Mit Vorgaben lasse sich Missbrauch vermeiden – so sollten nur gängige Medikamente verschrieben werden wie Antibiotika oder Schmerzmittel.
Die Ulmer SPD-Gesundheitspolitikerin Hilde Mattheis hält entsprechende Gesetzesänderungen durchaus für möglich. Der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient bleibe wichtig. Aber, so Mattheis: „Wir sind offen, auch bundesgesetzliche Regelungen anzupassen, wenn die jetzt angestoßenen Modellprojekte gute Ergebnisse liefern. Wir werden diese aufmerksam beobachten und evaluieren.“
Patientenschützer warnen
Greta Schuler vom Sozialverband VDK warnt vor zu hohen Erwartungen. „Natürlich machen solche Modelle an einigen Stellen Sinn – etwa, um Patienten lange Anfahrten zu einem Facharzt zu ersparen“, sagt Schuler. Es dürfe aber nicht dazu kommen, dass Senioren, Menschen mit Behinderungen oder Sprachproblemen abgehängt würden, weil es hohe Hürden für den Besuch in einer Praxis gebe. „Es braucht den persönlichen Eindruck des Arztes.“
Tuttlingens Landrat Stefan Bär (Freie Wähler) freut sich uneingeschränkt über den Testlauf: „Es werden sowohl jüngere Menschen profitieren, die ortsunabhängig und mit geringen Wartezeiten einen Arzt konsultieren können, als auch ältere Menschen, die den Weg zum Arzt nicht alleine bewältigen können.“