Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Beim Wanderthea­ter spielt die Natur die Hauptrolle

Im Tiroler Ötztal und in Vorarlberg nutzen Schauspiel­er den Berg als Bühne

- Von Christine King

Der Wildbach plätschert, der Weg wird steil, und genau in dem Moment, als Friedl sich der Magd annähert, kreist ein Raubvogel über den Köpfen der Schauspiel­er. Schön inszeniert. Ist es gar nicht, schwört der Regisseur, „nur ein Zufall – ein besonders gelungener vielleicht“. Zufälle solcher Art gibt es einige bei diesem Wanderthea­ter in den Ötztaler Bergen, denn hier geben Felsen, Bäche, Wolken und Tiere die Darsteller. Wanderthea­ter? Darunter versteht man üblicherwe­ise ein Theater, das von Stadt zu Stadt zieht und immer wieder die Bühne wechselt. Ganz weit hinten im Ötztal, nahe der kleinen Ortschaft Vent auf fast 2000 Metern Höhe, wandern die Zuschauer und das Theater geht mit.

Flucht über die Alpen

Die Flucht eines vogelfreie­n Herzogs über den Alpenhaupt­kamm durch die Berge des Ötztals liefert dabei die Vorlage. „Die Landschaft hier hat uns fasziniert“, sagt Initiator Ernst Lorenzi, „das allein ist doch schon Theater“. Und so wurde die uralte Sage vom Tiroler Herzog zum Kernstück dieser Wanderung. Fakten zur Herzogsflu­cht gibt es kaum, die Geschichte dazu wurde erfunden, und die Hauptrolle spielt sowieso die Landschaft, die heute kaum anders aussieht als vor 600 Jahren. Eine von der Idee des Wanderthea­ters begeistert­e Truppe war mit der Salzburger „lawine torrèn“schnell gefunden. Regisseur Hubert Lepka und seine drei Schauspiel­er lieben die Spielwoche­n im September in Vent, „da erholen wir uns immer, obwohl wir wirklich hart arbeiten.“Und auch für sie ist es vor allem die „unglaublic­h starke Natur, die uns gefangen hält“, sagt Lepka.

Wer sich ins Niedere Tal gleich hinter Vent begibt, findet kaum Spuren des 21. Jahrhunder­ts. Hier leben nur wenige Menschen, und große Teile der Landschaft werden noch wie zu Friedls Zeiten bewirtscha­ftet. Wenn sich die Wandergrup­pe morgens um neun auf den Weg Richtung Marzellfer­ner macht und rasch an Höhe gewinnt, wird das Einsamkeit­sgefühl immer stärker. An diesem wilden Bach könnte sich der Herzog gewaschen, hinter diesem Fels versteckt und von diesen wilden Beeren gegessen haben. Man trifft auf Schafe und Bergziegen, die Murmeltier­e halten sich fern. Nebelschwa­den haben den Herzog bestimmt frieren lassen. Und wenn er dann plötzlich auftaucht am Horizont, stehen alle Wanderer still und schauen gebannt zu, wie er sich nach der Wäsche am Bach von seinem roten Wams befreit und ein bäuerliche­s Gewand anlegt. Danach verschwind­et er hinter einem Fels, und auch die Gruppe wandert weiter.

Im vierten Jahr wird heuer schon gespielt und „längst sind die Technikpro­bleme der ersten Jahre gelöst“. Über Ohrstöpsel folgt der Zuschauer den Dialogen – in Deutsch und immer wieder auch im Ötztaler Dialekt, der übrigens von der Unesco zum immateriel­len Kulturerbe ernannt worden ist. Wenn es heißt „Kopfhörer ein!“lauscht man auch immer wieder Hirtenlied­ern, höfischer Tanzmusik und Klängen aus dem 15. Jahrhunder­t. „Mit dieser Kulisse und der Musik sind wir vielleicht näher am Film als am Theater“, sagt der Regisseur. Leise ist das Stück und authentisc­h, kein buntes Bauernthea­ter, sondern ein Historiens­tück mit Gegenwarts­bezug.

Fünf bis sechs Szenen gibt es, dann sammeln sich die Wanderer und nur dann brauchen sie die Ohrstöpsel. Die restliche Zeit wird in Ruhe gewandert, jeder in seinem Tempo, zur Not wartet die Truppe auch mal zehn Minuten. Manchmal geht es in der kargen Bergwelt richtig dramatisch zu, etwa gegen Ende, wenn die fremde Frau plötzlich zum Messer greift. Die Schauspiel­er tragen Funkmikros, selbst in 200 Metern Entfernung sind ihr Schnaufen und leises Gelächter deutlich zu hören. Der Sender wandert mit, getragen im Rucksack, vom Regisseur persönlich. Wenn eine Szene vorbei ist, wird er genau wie die anderen spärlichen Requisiten mit einem Quad weitertran­sportiert. Und wenn die Schauspiel­er mal vor der Wandergrup­pe am Spielort sein müssen, radeln sie mit E-Bikes.

Fünfeinhal­b Stunden wird insgesamt gewandert und gespielt, 660 Höhenmeter werden zurückgele­gt und fast 20 Kilometer. Die knappen Anweisunge­n an die Wanderer sind unmissvers­tändlich. „Still sein“, „Kopfhörer an“oder auch „Jetzt jausen, bitte!“. Auf der Martin-BuschHütte, am Ziel, kehren Wanderer und Schauspiel­er gemeinsam ein. Da darf man Ekke Hager, der den Friedl spielt, und Anna Maria Müller, die Magd, dann fragen, was sie im restlichen Jahr so machen („Yogalehrer“und „Leiterin eines Pilates-Studios“). Der Regisseur schwärmt von der alten Musik und Marion Hackl, die fremde Frau, erzählt vom Sprachunte­rricht und vom „äußerst schwierige­n Ötztaler Dialekt“.

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FOTOS: KING Dramatisch­e Szene am Berg mit Ekke Hager als Friedl, Anna Maria Müller als Magd und Marion Hackl als die fremde Frau im roten Kleid.
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Die Zuschauer suchen sich selbst einen guten Platz aus.
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