Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Reihen geschlossen halten
Noch hält die europäische Einheitsfront. Die Rest-EU profitiert dieser Tage in Brüssel von der Schwäche und Zerstrittenheit der neu gewählten britischen Regierung. Auch wird bereits in der ersten richtigen Verhandlungsrunde deutlich, dass die britische Administration der geballten Beamtenexpertise in Brüssel wenig entgegenzusetzen hat. In den Abteilungen und Unterabteilungen der Behörde arbeiten genau diejenigen Beamten am Ausstiegsvertrag, die das komplizierte Regelwerk der EU in- und auswendig kennen.
Mit diesem Insiderwissen hofft man in den Verhandlungen zu punkten und die abschreckende Wirkung zu verstärken, die mögliche Nachahmer von einem Austrittsantrag abhalten soll. Deshalb wurden von der britischen Regierung in die Behörde entsandte nationale Experten, die in brexitsensiblen Abteilungen arbeiten, inzwischen dazu aufgefordert, ihre Schreibtische in Brüssel zu räumen.
Die Oberhand wird die Europäische Union jedoch nur so lange behalten, wie sie sich nicht auseinander dividieren lässt. Es gibt aber unzählige Interessenskonflikte. Am heutigen Mittwoch steht bei der EUKommission Polen unter kritischer Beobachtung, das seine oberste Gerichtsbarkeit an die Kandare legen will und damit Grundwerte der EU verletzt. Ähnlichen Ärger gibt es mit Ungarn.
Hinzu kommt der Streit darüber, welchen Weg Europa in der Flüchtlingsfrage einschlagen soll. Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron wiederum will die Arbeitnehmerfreizügigkeit einschränken, um Billigkonkurrenz aus Osteuropa fernzuhalten. Ausgerechnet Großbritannien, das nach dem Brexit seinen Arbeitsmarkt künftig komplett abschotten will, hatte bei diesem Thema stets eine liberale Haltung, die sowohl die eigenen Unternehmen als auch die Osteuropäer begünstigt hat.
Die Reihen sind also keineswegs so geschlossen und die Interessengegensätze so klar, wie es derzeit den Anschein hat. Es könnte richtig spannend werden in Brüssel.