Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Vom Workshop ins Gefängnis
Untersuchungshaft gegen sechs Menschenrechtler von Amnesty International – Kritik von Angela Merkel: „Absolut ungerechtfertigt“
ISTANBUL/BERLIN (dpa) - Für Magdalena Freudenschuss ist das völlig absurd. Ihr Lebensgefährte, der Menschenrechtler Peter Steudtner, fährt zu einem Stressbewältigungs-Workshop nach Istanbul und landet wegen angeblicher Unterstützung einer Terrororganisation in Untersuchungshaft. Um welche Organisation es sich dabei handeln soll, geht aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung nicht hervor. Wann Freudenschuss den 45jährigen Familienvater wiedersehen wird, steht in den Sternen.
Am Dienstag verhängte ein Richter Untersuchungshaft gegen Steudtner aus Berlin, die Landesdirektorin von Amnesty International, Idil Eser, und vier weitere Menschenrechtler. Seit dem Putschversuch in der Türkei 2016 wurden mehr als 50 000 Menschen in Untersuchungshaft gesperrt, die bis zu fünf Jahre dauern kann. Mehr als 150 Journalisten sitzen derzeit im Gefängnis, darunter der deutsch-türkische „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel. Auch die Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu aus Ulm ist in U-Haft. Dass nun gleich sechs Menschenrechtler bis zu einem Prozess hinter Gitter sollen, markiert eine neue Stufe im Vorgehen der Türkei gegen angebliche Staatsfeinde.
Kontakte zu Kilic vorgeworfen
Vier der auf Büyükada festgenommenen Menschenrechtler wurden bis zum Beginn eines Prozesses auf freien Fuß gesetzt, sie dürfen das Land nicht verlassen und müssen sich dreimal die Woche bei der Polizei melden. Die Untersuchungshaft gegen die anderen sechs begründete das Gericht mit Fluchtgefahr. Die Staatsanwaltschaft wirft allen zehn Beschuldigten vor, eine „bewaffnete Terrororganisation“zu unterstützen. Amnesty spricht von „bizarren Anschuldigungen“. Im Protokoll des Verhörs von Amnesty-Direktorin Eser geht es unter anderem um ihre zahlreichen Kontakte zu Taner Kilic. Die sind insofern wenig erstaunlich, als dass Kilic der Vorsitzende von Amnesty in der Türkei ist. Kilic sitzt seit vergangenem Monat in Untersuchungshaft – ebenfalls unter Terrorverdacht. Ihm werden Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Putschversuch vor einem Jahr verantwortlich macht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Inhaftierung Steudtners scharf verurteilt und dessen Freilassung gefordert. „Wir sind der festen Überzeugung, dass diese Verhaftung absolut ungerechtfertigt ist“, sagte die Kanzlerin. „Wir werden seitens der Bundesregierung alles tun, auf allen Ebenen, um seine Freilassung zu erwirken.“
Erdogan rückt die Menschenrechtler in die Nähe der Putschisten vom 15. Juli 2016. Sein Vorgehen gegen Amnesty International entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Als Erdogan 1999 – damals als Bürgermeister von Istanbul – wegen des Rezitierens eines Gedichts zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, setzte sich Amnesty International für seine Freiheit ein.