Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Eltern haben nicht die letzte Entscheidung“
Reinhard Merkel vom Deutschen Ethikrat über den Fall des todkranken Babys Charlie Gard
BERLIN - Der Fall Charlie Gard bewegt Menschen in aller Welt. Am 25. Juli soll der britische High Court entscheiden, ob das todkranke Baby weiter behandelt wird oder ob die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet werden. Das Urteil setzt den Schlusspunkt unter einen langwierigen Streit: Die Eltern wollen, dass ein US-Mediziner ihr elf Monate altes Kind mit einer experimentellen Methode behandelt. Die Ärzte, die Charlie in London behandeln, glauben nicht, dass ihm noch geholfen werden kann. Sie wollen ihm Leid ersparen und fordern, dass er in Würde sterben soll. Warum der Fall nicht so eindeutig ist, wie man meinen könnte, erklärt Prof. Dr. Reinhard Merkel vom Deutschen Ethikrat im Gespräch mit Daniel Drescher.
Herr Merkel, warum darf ein Gericht darüber entscheiden, ob ein Kind leben darf oder sterben muss?
Im Fall Charlie Gard geht es um eine Entscheidung über Leben oder Tod. Diese Entscheidung kann nicht in der Willkür von Privatpersonen liegen. Wenn es, wie in diesem Fall, keinen Konsens der Ärzte und der Eltern gibt, muss es eine gerichtliche Entscheidung geben. Das wäre auch in Deutschland nicht anders. Eltern haben keine Entscheidungsbefugnis über Leben und Tod ihrer Kinder.
Gibt es Unterschiede in Gesetzgebung oder Gesundheitswesen zwischen Großbritannien und Deutschland?
Im Grundsätzlichen sehe ich diese Unterschiede nicht. Am Ende würde in Deutschland das Familiengericht eingeschaltet. Die Situation der Eltern von Charlie Gard ist nicht spezifisch geregelt. Wir haben nur die allgemeinen gesetzlichen Normen: Aktives Töten ist naturgemäß verboten; aber auch jemanden sterben zu lassen, den man am Leben erhalten könnte, kann ein strafbares Tötungsdelikt sein. Die verfassungsrechtliche Grundlage ist das Recht auf Leben aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes. Man darf das Kind auch nicht sterben lassen, wenn man ein – wie Juristen sagen – Garant für dessen Lebenserhaltung ist. Das sind die Ärzte, die das Kind behandeln, und das sind auch die Eltern, deren Einwilligung dafür erforderlich ist. Daher braucht man für das Abschalten der lebenserhaltenden Maschinen eine besondere Rechtfertigung, will man dem Vorwurf des Tötens durch Unterlassen entgehen. In unserem Fall scheint mir eine solche Rechtfertigung aber nahezuliegen, eine Art Notstand: der Vorrang eines Interesses des tödlich kranken Kindes an der Vermeidung unnötigen schweren Leids, das mit der intensivmedizinischen Verlängerung seines Lebens verbunden wäre.
Richter sind keine Gesundheitsexperten. Vielen Menschen leuchtet nicht ein, warum Juristen eine so schwerwiegende Entscheidung treffen dürfen – und nicht die nächsten Verwandten des Kindes.
Die Richter müssen sich über die medizinischen Voraussetzungen der Situation informieren lassen. Das Kind leidet an einem genetisch bedingten, permanenten und unheilbaren Muskelschwund. Der führt dazu, dass in naher Zukunft auch Atmung und Herzkreislaufsystem zum Erliegen kommen. Wenn es keine tödliche Erkrankung wäre, sondern eine, die „nur“zu einer schweren Gehirnschädigung führte, wäre die Legitimation, das Kind sterben zu lassen, höchst problematisch. Denn dabei würde impliziert, ein solches Leben sei nicht lebenswert. Da das Kind aber in absehbar kurzer Zeit sterben wird, stellt sich die bittere Frage: Wie sieht dieser Sterbeprozess aus? Und ist dessen medizinische Verlängerung dem Kind zumutbar? Die Ärzte in England haben das auch so formuliert. Keiner sagt „das lohnt sich nicht mehr“oder „das ist zu teuer“. Vielmehr ist es, wie die Dinge offenbar liegen, im eigenen besten Interesse des Kindes, dessen Leben nicht zu verlängern; denn damit würde ein unzumutbarer Leidenszustand verlängert. Ich habe mich (wenn dieser Hinweis gestattet ist) vor Jahren in einer ausführlichen Untersuchung mit der „Früheuthanasie“beschäftigt, dem Töten und Sterbenlassen schwerstgeschädigter Neugeborener. Die Argumentation der Ärzte in England halte ich – sofern sie medizinisch korrekt ist – auch für moralisch und rechtlich korrekt.
In der öffentlichen Debatte herrscht Unverständnis dafür, dass das Kind nicht dem Wunsch der Eltern entsprechend in den USA behandelt wird. Dort gibt es eine experimentelle Therapiemethode. Das Geld dafür hätten die Eltern zusammen, warum sollte man es nicht ausprobieren? Wieso diese rechtlichen Hürden?
Wenn diese experimentellen Methoden das Kind nicht belasten würden, wäre diese Rückfrage so berechtigt wie die damit verbundene Forderung. Aber wenn das zu unzumutbaren Belastungen des Kindes führt, sollte man den Eltern eine solche Entscheidungsbefugnis nicht einräumen. Alle medizinischen Interventionen werden subjektiv als Belastung erlebt, als Stress, als schmerzhaft. Und nun kommt ein vielleicht hart anmutender Satz: Wenn man ein Kind sterben lassen darf, dann muss man es sterben lassen. Das folgt aus dem umgekehrten Satz: Wenn man ein Kind am Leben erhalten darf, dann muss man es am Leben erhalten. Denn es hat ein Grundrecht aufs Leben. Können die Ärzte allerdings nicht definitiv sagen, dass eine Behandlung für das Kind unzumutbar, weil zu schmerzhaft und belastend ist, dann sollten die Eltern tatsächlich das letzte Wort haben. Und das ist im Fall Charlie Gard wohl der eigentliche Konflikt: Die Eltern argumentieren, dass die Ärzte nicht sicher sein können. Die Mediziner wiederum sagen: Das versteht ihr nicht, wir können es medizinisch jedenfalls mit hinreichender Sicherheit einschätzen.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen ...
Die Richter in Straßburg dürfen nicht ihre eigene Meinung an die Stelle der Richter in England setzen. Sie dürfen nur überprüfen, ob das englische Recht der europäischen Menschenrechtskonvention entspricht. Und sie haben entschieden, dass die britische Justiz wie deren rechtliche Grundlagen sich im vorgegebenen Rahmen halten.
Haben Sie Verständnis für die Eltern, die diese rechtlichen Regelungen nicht nachvollziehen können und wütend sind?
Schwer zu sagen. Die Eltern dürften Hoffnung haben, dass das Kind nicht an dieser Krankheit sterben muss, und vor diesem Hintergrund verstehe ich sie. Doch das scheint eine Illusion zu sein. Die Eltern dürften auch die Belastungen unterschätzen, die die Behandlung für das Kind mit sich bringt. Aber dass sie nicht das alleinige und letzte Entscheidungsrecht haben können, wird schon an dem Umstand deutlich, dass manche Eltern in Fällen, in denen das Recht eine Weiterbehandlung geböte, zu einer anderen Entscheidung kämen. Etwa, weil sie es für sich selber als zu große Belastung empfänden, ein schwerstbehindertes Kind zu haben. Wenn das Recht sagt: Dieses Kind muss behandelt werden, können die Eltern nicht sagen: Wir wollen aber, dass man es sterben lässt. Deswegen haben die Eltern auch im umgekehrten Fall grundsätzlich nicht die letzte Entscheidung. Über die Ausnahmen der unaufklärbaren klinischen Grauzonen haben wir schon gesprochen.
Wer entscheidet eigentlich, welche Belastung einem Kind zuzumuten ist? Da müssen die Juristen den Ärzten glauben, oder?
Richtig, jedenfalls die Auskunft über die klinischen Grundlagen dieser Belastung muss ein Gericht akzeptieren. Die Ärzte mögen ja irren; und die Juristen glauben den behandelnden Ärzten auch nicht blind, sondern holen regelmäßig Gutachten von weiteren Experten ein. Nur: Wer sonst als die von Berufs wegen Zuständigen sollte die medizinischen Befunde beurteilen? Die Zumutbarkeitsfrage als Gegenstand einer moralisch-rechtlichen Abwägung müssen die Juristen dann allerdings selber und kraft eigener Kompetenz beantworten.
Der Basler Rechtsprofessor Bijan Fateh-Moghadam nennt die medizinisch-rechtliche Kultur in Großbritannien „sehr paternalistisch“und sagt, die Gerichte treten dort als oberste Erziehungsberechtigte auf.
Das ist ein kluger Jurist und ein guter Freund von mir. Hier sieht er die Dinge aber meines Erachtens nicht richtig. Er suggeriert, in Deutschland dürften die Eltern entscheiden. Aber nach allem, was ich vorhin ausgeführt habe, stimmt das nicht. Natürlich sind das schmerzhaft schwierige Fragen, und wer selbst Kinder hat, empfindet das gewiss besonders intensiv.
Wie sieht es auf europäischer Ebene aus?
Ich glaube nicht, dass es in irgendeinem europäischen Land ein spezifisches Gesetz für den Umgang von Neonatologen mit schwerstgeschädigten Neugeborenen gibt. Hier bei uns hat die Scheu davor auch mit dem finsteren Schatten der deutschen Geschichte zu tun. Die Nazis haben massenhaft behinderte Menschen umgebracht. Jedes Gesetz, das konkret regeln würde, wann man bei schwerstgeschädigten Neugeborenen eine tödliche Dosis Morphium spritzen oder auch nur die Lebenserhaltung unterlassen darf, wäre vor diesem Hintergrund höchst problematisch.
Gibt es für die Eltern nun noch eine weitere gerichtliche Instanz?
Nein; nach der vorangegangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist das nun die letzte Instanz.
Was halten Sie davon, dass sich mächtige Männer wie Papst Franziskus und US-Präsident Donald Trump in die Sache einschalten?
Nichts. Immerhin wird man sagen können, dass der Papst im Einklang mit seinen eigenen moralischen Maximen handelt, nämlich nach den Maßgaben der katholischen Kirche. Nur sollte er anerkennen, dass es hier auch und vorrangig um eine Rechtsfrage geht. Deren Entscheidung darf nicht nachträglich durch moralisch motivierte Interventionen korrigiert werden, die im Übrigen ihrerseits umstritten und, anders als das Recht, nicht zwangsverbindlich sind. Trumps Intervention halte ich für populistisch. Man sollte sie ignorieren.