Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Bei Anruf Anklage
Prozessbeginn in Istanbul gegen regierungskritische Journalisten – Untersuchungshaft gegen zwei weitere Menschenrechtler
ISTANBUL - Wenn es nach der türkischen Staatsanwaltschaft geht, kann man schon zum Terroristen werden, indem man den falschen Parkettleger beschäftigt. Oder indem man einen Anruf von einem mutmaßlichen Bösewicht erhält. Wegen Vorwürfen dieser Art müssen sich ab heute mehr als ein Dutzend Mitarbeiter der Istanbuler Oppositionszeitung „Cumhuriyet“verantworten. Ihnen drohen lange Haftstrafen wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Journalistenverbände werten das Verfahren als besonders krasses Beispiel für den Druck auf die Medien in der Türkei: Nach ihrer Ansicht steht in dem Prozess der autokratische Kurs der Regierung in Ankara am Pranger.
Wie absurd die Vorwürfe der Anklage sind, hat der angeklagte „Cumhuriyet“-Kolumnist Kadri Gürsel in einer in der Untersuchungshaft geschriebenen Analyse herausgearbeitet. Gürsel, einer der prominentesten Journalisten des Landes, war per SMS und Anrufen von mutmaßlichen Anhängern des Predigers Fethullah Gülen kontaktiert worden. Obwohl Gürsel die allermeisten Botschaften und Anrufe nicht beantwortete, hält ihm die Anklage vor, mit Gülenisten konspiriert zu haben. Wenige Tage vor dem Putschversuch des vergangenen Jahres, der laut Ankara von Gülen organisiert wurde, nutzte Gürsel seine Kolumne für scharfe Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdogan – die Staatsanwaltschaft wertet dies als Straftat. Gürsel soll nach dem Willen der Anklage 15 Jahre ins Gefängnis.
Bei anderen Angeklagten sieht es nicht besser aus. „Cumhuriyet“-Geschäftsführer Akin Atalay sitzt in Haft, weil er seinen Fußboden von einem Unternehmen erneuern ließ, das auch einen Gülenisten als Kunden hatte. Gürsels Kollege, der 76jährige Veteran Aydin Engin, soll als Terrorist verurteilt werden, weil er bei einem Reisebüro buchte, bei dem auch ein Gülen-Anhänger ein Ticket kaufte. Der ebenfalls angeklagte Journalist Ahmet Sik saß vor einigen Jahren, als Gülens Bewegung noch mit Erdogans Regierungspartei AKP verbündet war, schon einmal in Haft, weil er kritisches Buch über die Gülenisten geschrieben hatte. Diesmal steht er wegen angeblicher Zusammenarbeit mit Gülens Leuten vor dem Richter. Mit ähnlichen Argumenten waren zuletzt der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner und andere Aktivisten in Untersuchungshaft genommen worden. Ein Istanbuler Gericht hat nun Untersuchungshaft gegen zwei weitere türkische Menschenrechtler verhängt. Ihnen werde „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“vorgeworfen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag. Nach Nalan Erkem und Ilknur Üstün wird nach Angaben von Anadolu gefahndet.
Seit neun Monaten im Gefängnis
Zwölf der 19 Angeklagten im „Cumhuriyet“-Prozess befinden sich in Untersuchungshaft – einige von ihnen sitzen seit fast neun Monaten hinter Gittern. Auf diese Weise werde die Untersuchungshaft zur Gefängnisstrafe ohne Urteil, schrieb Gürsel. Druck auf die Medien spüren viele Journalisten in der Türkei, doch „Cumhuriyet“wird von der Regierung mit ganz besonderem Eifer verfolgt. Unter den Angeklagten des Prozesses ist auch Musa Kart, der Karikaturist von „Cumhuriyet“, der sich in seinen Zeichnungen mehrmals über Erdogan lustig gemacht hat. Der nach Deutschland geflohene ehemalige Chefredakteur des Blattes, Can Dündar, zählt ebenfalls zu den Beschuldigten. Dündar war von Erdogan zum Landesverräter ausgerufen worden.
Journalistenverbände in der Türkei und im Ausland wollen Delegationen zum Prozessauftakt im Justizpalast in Istanbul schicken, um die Angeklagten zu unterstützen und auf die Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei aufmerksam machen. Auch einige Europaabgeordnete wollen das Verfahren in Istanbul verfolgen. Insgesamt wird mit mehreren tausend Demonstranten gerechnet.