Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Diesem Elektro-Golf fehlt noch der letzte Schliff
Antrieb überzeugt durch Spurtstärke – Verarbeitung auf Oberklasseniveau – Reichweite und Ladetechnik enttäuschen
Ein e-Golf hinterlässt zwiespältige Gefühle: Einerseits möchte man nach zehn Tagen unter Strom das Auto nicht mehr abgeben. Denn mit einem elektrisch angetriebenen Fahrzeug unterwegs zu sein, hat immer noch einen leicht exotischen Touch. Man fühlt sich an der Spitze der Bewegung, gerade von Bundeskanzlerin Angela Merkel bestärkt, die das Ende des Verbrennungsmotors ausgerufen hat. Andererseits: Mobil ist der Fahrer mit diesem Golf nur sehr beschränkt. Die leidigen Themen mangelnde Reichweite und fehlende Ladesäulen verderben die gute Laune.
Über die positiven Seiten des VW Golfs ist viel geschrieben worden, keinem anderen Auto hat eine ganze Klasse, gar eine ganze Generation ihre Bezeichnung zu verdanken. Und tatsächlich wirkt die Verarbeitung mit edlen Oberflächen, sauberen Karosseriefalzen und kleinsten Spaltmaßen so, wie man es vom Golf eben erwarten darf. Der Fahrkomfort, die Sicht, die Zugänglichkeit und die Größe des Kofferraums, die Bedienung, die Sitze: Wer in den Golf einsteigt, fühlt sich wie daheim.
Der Antrieb mit 136 PS und dem für Elektrofahrzeuge typischen hohen Drehmoment bei niedrigen Fahrgeschwindigkeiten wirkt sehr kräftig. Die Geräuschkulisse? Welche Geräuschkulisse? Bis auf Windund Abrollgeräusche hört der Fahrer nichts.
Das Testfahrzeug ist mit allerlei Helferlein ausgestattet. Der Einparkassistent erledigt seine Arbeit perfekt, auch hält der Golf automatisch den gewünschten Abstand zum Vordermann. Die Rückfahrkamera, das schlüssellose Schließ- und Startsystem und die sich mit der Lenkung drehenden Scheinwerfer: ganz großes Kino. Dass der Spurhalteassistent und die Software, die die Verkehrszeichen erkennen soll, unzuverlässig sind, sei am Rande aber auch bemerkt.
Wirklich ärgerlich sind die Versprechungen, die VW in puncto Reichweite abgibt, aber nicht im Ansatz einhalten kann. 300 Kilometer, die das Tablet-große Display anzeigt, sind und bleiben utopisch. Zum Beispiel gerät die 134 Kilometer lange Fahrt von Ulm über Biberach nach Tuttlingen auf den letzten Metern zum Nervenkitzel. Schon bei Biberach – nach 38 Kilometern bei Tempo 120 auf der zweispurig ausgebauten Bundesstraße 30 – sind von den ursprünglich angegebenen 300 Kilometern Reichweite angeblich nur 162 übrig. In Tuttlingen angekommen, sollen es noch 41 Kilometer bis zum „Aus“sein. Der Verbrauch: 17,5 Kilowattstunden auf 100 Kilometer. Bei einem angenommenen Strompreis von 30 Cent pro Kilowattstunde stehen sehr konkurrenzfähige 5,25 Euro für den Treibstoff Strom auf der Rechnung.
Auf der Rückfahrt – im „Eco Plus“Modus – ist die Klimaanlage dann ausgeschaltet, die Höchstgeschwindigkeit auf 90 Kilometer pro Stunde beschränkt, beim Bremsen und in Kurven wird Strom in die Batterie eingespeist. Der Sparbetrieb mit einem Verbrauch von 13 Kilowattstunden auf 100 Kilometer lohnt sich dabei nicht nur finanziell mit 3,90 Euro
Sehr hoher Anschaffungspreis, durch die geringe Reichweite eingeschränkte Alltagstauglichkeit, Funktion der Assistenzsysteme nicht zuverlässig
für 100 gefahrene Kilometer: Mit dem restlichen Strom in der Batterie könnte der Fahrer noch weitere 70 bis 90 Kilometer abspulen. Dann wären 220 Kilometer Reichweite zu schaffen. Doch wer will sich mit Tempo 90 von Bussen und Lkw überholen lassen?
Gänzlich abzuraten ist von spontanen Spritztouren über die Autobahn: Nach 92 Kilometern, davon 50 mit der auf 150 Kilometer pro Stunde abgeregelten Höchstgeschwindigkeit, ist die Batterie fast leer. Noch
72 Kilometer, dann sollte der Fahrer eine Ladesäule aufsuchen – theoretisch. Praktisch dürfte die Dienstfahrt schon nach weiteren 30 bis
40 Kilometern beendet sein.
Auf der Wunschliste an die Wolfsburger Ingenieure steht daher zuvorderst eine leistungsfähigere Batterie, wie der neue, aber in Deutschland praktisch noch nicht verfügbare Opel Ampera sie aufweisen soll. Von echten 350 Kilometern im Testzyklus wird berichtet.
Dann wäre im Active Info Display eine App wünschenswert, die alle freien Ladesäulen in der Umgebung – und nicht nur die der VolkswagenPartner – nennt. Denn gerade beim Laden der Batterie herrscht derzeit noch das reine Chaos. Verschiedene Steckergrößen, verschiedene Bezahlsysteme, verschiedene Stromstärken tragen nicht dazu bei, dass das einst von der Bundesregierung ausgegebene Ziel von einer Million stromender Autos im Jahr 2020 auch nur annähernd erreicht werden kann.
In Ulm, wo der e-Golf getestet wurde, haben die Stadtwerke mit der „SchwabenCard“und mit annähernd
50 Ladesäulen vorbildlich investiert. Dass Kunden der Stadtwerke noch bis Ende dieses Jahres kostenfrei Strom tanken und drei Stunden ebenso kostenfrei parken, entlastet den Geldbeutel. Und schon bald soll der Kunde im Netz erfahren, welche Säule gerade frei ist. Doch wer will abends, bei Schnee, Eis oder Regen sperrige Kabel aus dem Kofferraum fingern und das Auto aufladen? Im Anzug?
Fazit: In ganzseitigen Anzeigen weist VW derzeit darauf hin, dass für den e-Golf 11 000 Euro Prämie zu bekommen sind. Aus gutem und teurem Grund machen die Wolfsburger kräftig Werbung, denn der e-Golf verkauft sich nur schleppend. Für das getestete Auto, immerhin
44 335 Euro nach Listenpreis teuer, wären immer noch 33 335 Euro zu überweisen. Wer an der Spitze der Bewegung fahren will, viel auf Kurzstrecken unterwegs ist, daheim und am Arbeitsplatz das Ladekabel einstecken kann, sollte den VW e-Golf zumindest in Erwägung ziehen.