Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schotten hadern mit dem Brexit
Eine Abnabelung von Großbritannien wäre aber wirtschaftlicher Selbstmord
EDINBURGH/LONDON - Die Fassungslosigkeit ist zu greifen. Mehr als ein Jahr nach dem britischen EUAustrittsreferendum hadern die Schotten noch immer mit dem Ergebnis. Spricht man in Schottlands Hauptstadt Edinburgh Bürger auf den Brexit an, wird es schnell laut. Es fallen Worte wie „Unfall“, „Katastrophe“und „Unabhängigkeit“.
Nun ist Edinburgh eine weltoffene, multikulturelle Stadt; eine proeuropäische Einstellung überrascht da nicht. Doch die gleiche Meinung hat man auch in den Highlands, auf der Inselgruppe der Äußeren Hebriden, oder in Dumfries und Galloway ganz im Süden: Von den insgesamt
73 schottischen Wahlkreisen hat am
23. Juni des vergangenen Jahres keiner für die Abspaltung des Vereinigten Königreichs von der Europäischen Union gestimmt.
Umso größer ist die Verärgerung der Schotten über den Ausgang des Referendums und den damit verbundenen Schlamassel. „Schottland will in der EU, will im gemeinsamen Binnenmarkt bleiben“, macht Stephen Herbert, Mitglied des schottischen Regionalparlaments unmissverständlich deutlich. 62 Prozent – so hoch war die Quote der EU-Befürworter beim Referendum – ließen daran schließlich keinen Zweifel, so Herbert.
Das klare Bekenntnis verwundert nicht, hat Schottland doch mehr als andere Regionen auf der Insel von den Zuwendungen aus Brüssel profitiert. Seien es Transferzahlungen aus dem EU-Agrarfonds oder Begünstigungen aus den Strukturfonds – in den vergangenen Jahren sind Milliarden Euro nach Schottland geflossen. „In einzelnen Regionen sind diese Finanzmittel elementar und die Bevölkerung weiß, wer der Absender ist“, sagt Generalkonsul Jens-Peter Voß aus Edinburgh.
Darüber hinaus hat die Region am nördlichen Ende des Vereinigten Königreichs enorm von der Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern profitiert. Und die Schotten brauchen diese Zuwanderung angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung auch weiterhin.
Ungeliebte Zentralregierung
Vor diesem Hintergrund war die erste Reaktion auf den Ausgang des EUReferendums nachvollziehbar: In der schottischen Regionalregierung unter Führung von Nicola Sturgeon wurde lautstark über ein zweites Unabhängigkeitsreferendum nachgedacht, um Druck auf die ungeliebte Zentralregierung in London auszuüben. 2014 hatten die London-Gegner knapp verloren – doch nach einem Brexit sähe alles ganz anders aus, so die Kalkulation Sturgeons. Mitte März dieses Jahres legte sich die Regierungschefin in Edinburgh sogar fest: Zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2019 sollten die Schotten erneut über einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich abstimmen. Inzwischen sind diese Stimmen weitgehend verstummt – wegen des deutlichen „Nein“aus London. Wegen des Dämpfers bei den Unterhauswahlen Anfang Juni, als die regierende Scottish National Party (SNP) unter Sturgeon deutliche Stimmenverluste hinnehmen musste – die SNP war mit diesem Thema in den Wahlkampf gezogen. Vor allem aber wegen der angespannten Wirtschafts- und Finanzlage.
Denn eine Abnabelung von London wäre ein Himmelfahrtskommando. Im Gegensatz zu 2014 steht Schottland heute wirtschaftlich wesentlich schlechter da, ist heute deutlich abhängiger von London als damals.
Damals stand der Ölpreis bei mehr als 110 US-Dollar und viele in der schottischen Regionalregierung glaubten neben einer politischen auch an eine finanzielle Unabhängigkeit. Diesen Illusionen gibt sich heute keiner mehr hin. Der Ölpreis dümpelt bei 55 US-Dollar herum, die Endlichkeit der schottischen Ölvorräte in der Nordsee ist absehbar, und die umstrittene Fördermethode des Fracking, auf den die Ölindustrie ihre Hoffnungen gebaut hat, wurde im vergangenen Jahr vom Regionalparlament in Edinburgh verboten.
Die Steuereinnahmen aus der Ölförderung fielen allein zwischen
2014 und 2015 von 1,8 Milliarden auf
60 Millionen Pfund. Das hat ein riesiges Loch in den Haushalt gerissen. Heute schreibt Schottland pro Jahr 15 Milliarden Pfund Miese, knapp zwei Drittel des Handels laufen mit dem Rest des Vereinigten Königreichs. Nur 16 Prozent des Handels machen Geschäfte mit den EU-Ländern aus. „Finanziell und wirtschaftlich wäre ein Austritt aus dem Vereinigten Königreich eine Katastrophe“, bringt es Generalkonsul Voß auf den Punkt. Die in London ansässige Denkfabrik Centre for Policy Studies (CPS) formuliert es noch drastischer: „Schottland würde zu einer Art Griechenland, nur ohne die Sonne.“
Neue Realitäten
Wirtschaftlich prosperiert in Schottland allenfalls die Whisky-Industrie, die denn auch nicht müde wird, auf die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft hinzuweisen. „Wir müssen in der EU bleiben, das ist in unserem Interesse“, fordert David Frost, Chef der Scotch Whisky Association.
Kein Wunder: Über 40 Prozent des urschottischen Getränks werden in die EU exportiert – wer will da schon Gefahr laufen, den Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt zu verlieren? Dabei geht es nicht einmal ausschließlich um den Zugang zum EU-Markt, betont Frost. Durch die EU-Mitgliedschaft erhalten die Schotten auch Zugang zu anderen Märkten. „Vor ein paar Jahren sind sie Zölle für Korea gestrichen worden, auf null Prozent“– nicht unwichtig fürs Whisky-Geschäft in Asien.
Angesichts der neuen Realitäten in Schottland ist aber auch Frost klar, dass ein Austritt aus Großbritannien wesentlich schwerer zu verdauen wäre als ein Austritt aus der Europäischen Union. Und so werden die eigentlich EU-freundlichen Schotten die Scheidung mit Brüssel zähneknirschend mittragen. Und auf die vollmundigen Versprechungen von Premierministerin Theresa May hoffen, die aus dem Land einen „Vorreiter des Freihandels“machen will.