Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Stück für Stück zurück ins ganz normale Leben
Ein Jahr lang hatte ihr Vater die kleine Lucia aus Achstetten in Ägypten versteckt – Seit ihrer glücklichen Heimkehr vor drei Monaten kommt die Familie etwas zur Ruhe
ACHSTETTEN - Gut drei Monate ist es her, dass Elina Meister ihre Tochter Lucia nach einem Jahr verzweifelter Suche wieder in die Arme schließen konnte. In den 100 Tagen, die seither vergangen sind, hat die Familie versucht, wieder zur Normalität zurückzukehren. Die lange Zeit der Ungewissheit hat aber deutliche Spuren hinterlassen.
Die siebenjährige Lucia saust die Treppe im Wohnhaus ihrer Familie in Achstetten (Landkreis Biberach) hinunter. In der Hand hält sie ein Blatt mit Schulaufgaben: „Mama, kannst du mir helfen?“Geduldig schaut sich Mutter Elina die Seite an, und als Lucia wieder nach oben in ihr Zimmer verschwindet, lächelt die 27Jährige zaghaft. „Am liebsten hätten mich meine Kinder bei den Hausaufgaben immer dabei.“
Wer weiß, was hinter der Familie liegt, kann diesen Wunsch von Lucia und ihrem älteren Bruder Kevin verstehen: Ein gutes Jahr lang wurde die damals Sechsjährige von ihrem ägyptischen Vater in dessen Heimat versteckt gehalten und von einem Ort zum anderen gebracht. Erst Ende Juli sahen sich Mutter und Tochter in Kairo zum ersten Mal wieder. Wenige Tage später reisten die beiden in Begleitung des Vaters zurück nach Deutschland. Der Mann wurde noch am Flughafen in München festgenommen und ist seitdem in Haft.
„Der Anfang war nicht ganz leicht“, bekennt Elina Meister. Nach der überwältigenden Freude, ihre Tochter wieder in die Arme schließen und ihr endlich sagen zu können, dass sie immer gesucht und vermisst wurde, musste die junge Frau erkennen, dass das Mädchen während des „verlorenen“Jahres viel erlebt hat, ohne den Beistand der Mutter.
„Sie kam mir in den ersten Tagen irgendwie fremd vor“, erinnert sich Elina Meister. Bei aller Zuversicht, die sie ausstrahlt, klingt auch Weh- mut mit, ist zu spüren, dass die Zeit der Suche Wunden verursacht hat, die tiefer gehen und Zeit brauchen, um zu heilen. „Sie ist gewachsen in diesem Jahr, und sie war so dünn, als ich sie das erste Mal wiedergesehen habe.“Die ersten Milchzähne seien ihr ausgefallen – „Ich hätte natürlich die Zahnfee kommen lassen“. Es sind diese Details, die Elina Meister daran erinnern, was sie verpasst hat.
In den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr sprach Lucia ausschließlich Arabisch und nur wenige Brocken Englisch. Ihre Muttersprache Deutsch schien sie vergessen zu haben. Doch Lucias bester Freundin Kiara und auch ihrem Bruder Kevin war das egal: Die Kinder überbrückten die Sprachbarriere mit Spielen und Lachen, und so kehrte auch die Sprache zurück. Im September wurde Lucia mit einem Jahr Verspätung eingeschult. „Lucia liebt die Schule“, sagt die Mama. „Am liebsten würde sie auch am Wochenende hingehen.“
Also alles normal, alles wie bei anderen Familien? Nicht ganz. Auch wenn Lucia oberflächlich betrachtet ein glückliches Kind zu sein scheint und man ihr im Alltag nichts anmerkt, ist ihre Mutter überzeugt, dass sie das Erlebte noch lange nicht verarbeitet hat. Bis heute rede Lucia fast gar nicht über ihre Zeit in Ägypten, frage auch nicht nach dem Vater. „Dass sie nichts erzählt, hat mich vor allem am Anfang sehr belastet“, sagt Elina Meister. Will die Mama einmal alleine weggehen, wird Lucia nervös. „Wenn noch jemand dabei ist, geht es, aber wenn ich mich zum Beispiel mit einer Freundin treffen will und das Haus ohne Begleitung verlasse, ist sie unruhig und kann auch nicht einschlafen“, sagt die Mutter. Nach der Rückkehr aus Ägypten schliefen Mutter und Kinder in einem Bett, erst seit die Schule wieder begonnen hat, verbringen Sohn und Tochter die Nächte wieder in eigenen Betten.
Anfang August nahm Elina Meister eine Auszeit mit ihren Kindern und ihrer Mutter Helene: Im Urlaub mit ihrer Familie hat Lucia schwimmen gelernt, tobte mit ihrem Bruder im Wasser, konnte ein bisschen von dem nachholen, was sie ein Jahr lang verpasst hatte.
Seelische Wunden
Ein Jahr, in dem Elina Meister zwischen Deutschland und Ägypten pendelte. Ein Jahr, in dem sie weder für Lucia noch für Kevin richtig da sein konnte. Noch sind die Wunden nicht verheilt. Demnächst beginnt Lucia eine Therapie. Vielleicht, so hofft die Mutter, wird sie dann über das Erlebte sprechen können.
Nach den Gefühlen für ihren ExPartner gefragt, sagt Elina Meister: „Eigentlich fühle ich da gar nichts. Mir wäre es lieber gewesen, er wäre nicht mitgeflogen. Momentan bin ich einfach froh, dass ich zur Ruhe kommen kann und keine Angst vor ihm zu haben brauche.“Der Vater sitzt derzeit in Untersuchungshaft. Wann das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Biberach beginnen wird, steht augenblicklich noch nicht fest.