Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Wow, da geht ja die Erde auf
René Pollesch inszeniert in Stuttgart seinen neuesten Theatertext
STUTTGART - Er mischt die deutschen Theater seit Jahren mit intellektuell anspruchsvollen, aber auch ziemlich unterhaltsamen Schnellsprechdiskursen zum Zustand der Menschheit und der Welt auf. Die Schauspieler und Theater lieben ihn, obwohl er Figuren aufeinander prallen lässt, die nichts mehr lieben – außer sich selbst. In seiner neuesten Uraufführung „Was hält uns zusammen wie ein Fußball die Spieler einer Fußballmannschaft“für das Staatsschauspiel Stuttgart wagt René Pollesch einen Blick auf den Erdenwurm, der sich Mensch nennt und so einsam ist, dass er manchmal nur noch schreien kann. Inszeniert hat wie immer: Pollesch selbst.
Entgrenzter Individualismus
Irgendwann vor knapp 50 Jahren war es soweit: Ende der 1960er-Jahre, als mit den Beatles, bunten Blumen und Kleidern, LSD, den Beach Boys und der kalifornischen Wellenreiterei eine Kulturrevolution auf der Tagesordnung der westlichen Welt stand, wurde zeitgleich im Weltall eines jener Fotos geschossen, das sich wie kein zweites ins kollektive Gedächtnis der Menschheit einbrannte. Ausgerechnet an Weihnachten, also am
24. Dezember 1968, wurde zuerst ein Schwarz-Weiß- und dann ein Farbfoto der aufgehenden Erde aufgenommen. Es war während der
Apollo-8-Mission, als William Anders im Verlauf einer Mondumkreisung der Atem stockte und er den Auslöser drückte: „Wow, da geht ja die Erde auf“.
Anders war einer der drei Astronauten und verantwortlich dafür, so René Pollesch, dass zwei Dinge gleichzeitig geschahen. Der Mensch sah, auf was für einem wunderschönen Planeten er lebt. Da er aber die Grenzen seines Lebensraums von außen gesehen hatte, beschäftigte er sich fortan zunehmend nur noch mit sich selbst. Der Aufgang der Erde war der Startschuss zum Abstieg des Menschen in die Sphären eines entgrenzten Individualismus. Für Pollesch spricht, dass er angibt, von wem er sich diese Theorie von der Schubumkehr des menschlichen Bewusstseins geliehen hat. Es ist der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen, der das 2013 in einem Katalog zu einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen formuliert hat.
Gewagte Zeitsprünge
Viel wichtiger ist allerdings, mit welchen bühnenpraktischen Dingen der Autor und Regisseur Pollesch die Uraufführung in Stuttgart unterfüttert. Da wäre zum Beispiel eine überdimensionale Katzentatze aus Sperrholz, zwischen deren Krallen die Schauspielerinnen und Schauspieler von der DiskursTankstelle lümmeln. Christian Czeremnych, Julischka Eichel, Astrid Meyerfeldt, Abaß Safaei-Rad und Christian Schneeweiß dürfen allerdings nicht allzu oft entspannen, sind sie doch Highspeed-Sprecher eines Pollesch-Textes, der ganz nebenbei die Schauspieltheorie des polnischen Theatertheoretikers Jerzy Grotowski bebildert, sich mit Alfred Hitchcocks Zufallsdramaturgie beschäftigt und derart enthemmt zwischen 1968 und heute hin und her springt, dass irgendwann auch Donald Trump an der Reihe ist.
Das ist für Pollesch der Anlass, einen Frauenchor einzusetzen, der betörend synchron „Ich bin der Mann“in Richtung Trump skandiert. Der Chor ist das deutsche Pendant der US-amerikanischen Frauenbewegung, die sich gegen Trumps sexistische Anzüglichkeiten zur Wehr setzt. Auf der Bühne des Stuttgarter Schauspiels sind das siebzehn junge Frauen, die ungemein kraftvoll und wie ein einheitlicher Sprechkörper agieren. Sie sind die Stars des Abends.
Ziemlich komisch wird das Ganze, wenn Astrid Meyerfeldt sich dann auch noch in den Chor verliebt, gesellschaftlich festgelegte Geschlechterrollen durcheinander geraten und Pollesch einmal mehr mit konventionellen Bühnenabsprachen spielt. Die siebzehn jungen Frauen stehen dann plötzlich in einer Reihe und ein Teil des Bühnenbodens fährt mitsamt dem Chor in die Tiefe. Man versteht: Die Dramaturgie des Begehrens, wie wir sie zum Beispiel aus Hollywood-Filmen kennen, funktioniert in der Regel so, dass das Objekt des Begehrens zwar anwesend, aber nicht wirklich erreichbar ist. Was wiederum zur Folge hat, dass Astrid Meyerfeldt aufgescheucht über die Bühne hastet und ihre neue Liebe sucht, den Chor.
Das sind so die Tricks, mit denen René Pollesch traditionelle Erzählstrukturen scheinbar zerstört, dann aber doch wieder erzählt, wie das mit der Liebe und dem Begehren so funktioniert. In seinem neuesten Stuttgarter Theaterabend ist da aber auch noch dieser „kosmische Blick“auf die Erde und die Behauptung: Da all die Bindekräfte in der Gesellschaft und in den Beziehungen allmählich ganz verschwinden, gibt es nur noch diesen Planeten, von dem die Menschheit seit Weihnachten 1968 weiß, das ist ein bunter Fußball. Und der hält das Ganze irgendwie dann doch noch zusammen.