Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Der letzte Versuch des Bundespräsidenten
Frank-Walter Steinmeier redet den Parteichefs von CDU, CSU und SPD ins Gewissen
BERLIN (dpa/sz) - Auch nach dem Treffen im Schloss Bellevue mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier liegt großer Druck auf den Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Martin Schulz (SPD). Über den Inhalt des Gesprächs, des vorerst letzten Versuchs des Staatsoberhaupts, eine neue Regierung auf den Weg zu bringen , wurde zunächst nichts bekannt. Die Beteiligten wollen ihre Parteigremien voraussichtlich heute über die Ergebnisse informieren.
Die Kanzlerin steht unter Druck, weil sie über zwei Monate nach der Bundestagswahl endlich eine Regierungskoalition zustande bringen muss. Merkel will unbedingt eine Minderheitsregierung und eine Neuwahl vermeiden. Im Ausland wird die schwierige Lage im wirtschaftlich stärksten Land der EU mehr und mehr mit Besorgnis wahrgenommen. Eine Mehrheit der Bundesbürger (61 Prozent) ist einer Umfrage zufolge dafür, dass die SPD in entsprechende Gespräche mit der Union eintreten sollte. Diese Ansicht vertreten auch 58 Prozent der SPDAnhänger, wie die Erhebung des Allensbach-Instituts für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ergab.
Auch die Gewerkschaften dringen auf eine stabile Regierung. Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, verlangte im SWR eine stabile Regierung. Dabei spreche für eine Große Koalition aus Union und SPD, dass es einen riesigen Modernisierungsbedarf in Deutschland und Europa gebe. Die Sozialdemokraten müssten sich in möglichen Verhandlungen für sicherere Arbeit in Zeiten des digitalen Wandels einsetzen. Sozialsysteme sollten stabilisiert werden und Arbeitgeber wieder den gleichen Anteil für die Krankenversicherung zahlen wie Arbeitnehmer.
Verdi-Chef Frank Bsirske erwartet endlich ernsthafte Sondierungen zwischen den Parteien mit dem Ziel einer stabilen Regierung. „Vielen Wählerinnen und Wählern wäre sicherlich nur schwer verständlich zu machen, wenn die SPD nicht ernsthaft sondieren würde, was sie in einer Koalition mit der Union an wichtigen Punkten realisieren kann. Natürlich muss in einer solchen Koalition die eigene Handschrift klar erkennbar sein“, sagte Bsirske der „Schwäbischen Zeitung“. Aus seiner Sicht wären Verbesserungen bei der Rente, ebenfalls eine paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenkasse sowie eine Stärkung des Tarifsystems wichtige Punkte.
Unterdessen belastet der Alleingang von Agrarminister Christian Schmidt (CSU) bei der Zulassung des Unkrautvernichters Glyphosat in der EU weiter das Klima zwischen Union und SPD. Schmidt versuchte, die Aufregung zu dämpfen, und traf sich mit Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Dennoch gab es erneut harsche Kritik an Schmidt aus der SPD. Parteivize Ralf Stegner sagte im BR: „Hier vor der Agrarlobby einzuknicken, das ist entweder in der Tat dämlich und Frau Merkel hat ihren Laden nicht im Griff, oder aber es ist ein grobes Foul gegen die SPD.“Eine Neuauflage der Großen Koalition sei alles andere als sicher.
Nach einem Medienbericht hat sich das Präsidium des CDU-Wirtschaftsrats am Donnerstag gegen eine Neuauflage der Großen Koalition ausgesprochen und gefordert, die Option einer Minderheitsregierung zu prüfen.
BERLIN - Ab Donnerstagabend rollen die schweren Limousinen vor das Schlossportal im Berliner Tiergarten. Krisengipfel in Bellevue – der Bundespräsident bittet die Parteichefs von Union und SPD in seinen Amtssitz. Frank-Walter Steinmeier hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Chefs von SPD und CSU, Martin Schulz und Horst Seehofer, zum gemeinsamen Gespräch geladen. Steinmeier will die Weichen für eine Neuauflage der Großen Koalition stellen.
Rund 90 Minuten redet der Präsident mit seinen Gästen darüber, wie man die Hängepartie bei der Regierungsbildung mehr als zwei Monate nach der Bundestagswahl schnell beenden kann. Ziel sei es, dass die Parteichefs am Ende zu Sondierungen bereit seien, hieß es am Donnerstag. Es ist der Abschluss einer ganzen Reihe von Gesprächen mit Partei- und Fraktionsspitzen, den Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. CDU-Chefin Merkel hatte sich am Donnerstag zunächst mit CSU-Chef Seehofer getroffen, um eine gemeinsame Linie für das Gespräch beim Präsidenten abzusprechen.
Klar ist: Steinmeier wird die Rolle des Vermittlers wieder abgeben. Nach dem GroKo-Gipfel im Schloss sei es Sache der Parteivorsitzenden, weiter über eine mögliche Regierungsbildung zu beraten, heißt es aus dem Präsidialamt. Das Staatsoberhaupt will nicht die Rolle des Schiedsrichters übernehmen.
Kanzlerin Merkel hatte nach dem Scheitern der Jamaika-Beratungen Neuwahlen abgelehnt.
Sie setzt auf eine Koalition mit der SPD, soll aber intern auch eine Minderheitsregierung nicht ausgeschlossen haben. Anders Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). „Wir versuchen ernsthaft, mit den Sozialdemokraten eine stabile Regierung zu bilden, wenn die SPD dazu bereit ist“, sagte er. Erst wenn dies gescheitert sei, müsse man über andere Schritte nachdenken.
Parteichefs unter Druck
Merkel, Seehofer und Schulz – alle drei stehen unter Druck: Seehofers politische Zukunft ist ungewiss. Der Ruf nach seinem Rückzug wird in der Partei immer lauter. Am kommenden Montag will die CSU-Landtagsfraktion darüber entscheiden. Welche Rolle er bei der Regierungsbildung in Berlin künftig spielen wird, ist noch unklar. Auch in der CDU wird der Ruf nach Erneuerung laut, doch bleibt CDU-Chefin Merkel mangels Alternative weiter unangefochten im Amt.
Martin Schulz spürt mächtig Gegenwind in der Partei. Er muss seinen Kursschwenk in puncto Regierungsbeteiligung der Basis erklären und sich auf dem Bundesparteitag kommende Woche zur Wiederwahl stellen. Schulz hatte sich am Abend der Bundestagswahl auf die Oppositionsrolle festgelegt und noch am Tag nach dem Jamaika-Aus sein Nein zu einer Regierungsbeteiligung bekräftigt. Plötzlich gibt es ganz neue Allianzen, schreiten Jusos und CDU-Wirtschaftsrat Seite an Seite und machen mobil gegen eine Große Koalition. Steinmeier hatte vor knapp zwei Wochen nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen den Parteien ins Gewissen geredet, an die Vernunft appelliert und Neuwahlen indirekt eine Absage erteilt. Glaubt man den Demoskopen, hat der Präsident die Mehrheit der Deutschen auf seiner Seite. 61 Prozent sind laut einer Umfrage dafür, dass die SPD mit der Union über die Neuauflage einer Großen Koalition verhandelt. Neuwahlen wünschen sich vor allem Anhänger der Linkspartei und AfD.