Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Matrosen auf Landgang
Leonard Bernsteins Musical „On the Town“am Theater St. Gallen
ST. GALLEN - Mehr als 70 Jahre alt ist mittlerweile Leonard Bernsteins erstes Musical „On the Town“. Dass es immer noch Funken sprüht, beweist nun eine brillante Neuproduktion am Theater St. Gallen. Für die Inszenierung hat man Josef E. Köpplinger gewonnen, der als erfolgreicher Intendant des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München beste Musical-Erfahrungen mitbringt. Zusammen mit dem Choreografen Adam Cooper und dem Dirigenten Michael Brandstätter entfesselt er eine szenisch und musikalisch zündende Show.
„On the Town“wurde noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 28. Dezember 1944 in New York aus der Taufe gehoben. Bernstein war damals erst 26 Jahre alt. Das Libretto steuerten Betty Combden und Adolph Green bei. Die Idee dazu stammte von Jerome Robbins, der auch die Uraufführungsversion choreografierte. Das abendfüllende Stück spielt im Jahr und am Ort seiner Entstehung. Erzählt wird von drei Matrosen der US-Navy, die 24 Stunden Zeit haben, um auf Landgang die Metropole New York zu erkunden.
Gabey, Ozzie und Chip fahren mit der U-Bahn in die Stadt und entdecken dort das Bild von Ivy, der aktuellen Miss U-Bahn des Monats. Gabey verliebt sich sofort in das Foto der jungen New Yorkerin, die Gesangsunterricht bei der resoluten Madame Dilly nimmt. Während Ozzie im Naturkundemuseum die Anthropologin Claire anbaggert und Chip von der emanzipierten Taxifahrerin Hildy abgeschleppt wird, findet Gabey seine Traumfrau in der Carnegie Hall. Was er nicht weiß: Ivy verdient sich ihr Geld für die Gesangsstunden als Bauchtänzerin.
Anbandelungsversuche der Paare führen zu urkomischen Situationen und turbulenten Verwicklungen. Während Chip und Ozzie ihr Ziel erreichen, bekommt Gabey zunächst einen Korb. Ivy liebt ihn zwar, sagt aber ein Date mit ihm ab, weil sie ihrem Job nachgehen muss. Diese Begründung bleibt sie ihm jedoch aus Scham schuldig. Zudem hintertreibt Madame Dilly das Treffen mit bösen Lügen. Traurig zieht Gabey mit seinen Kumpels und deren „Eroberungen“durch die Clubs der Stadt.
Als Gabey und Ivy am Ende doch noch zusammenfinden, sind die 24 Stunden des Landgangs um. Der Kriegsdienst ruft, die Helden der durchzechten Nacht müssen zurück auf ihr Schiff. Während sie Abschied von den drei Frauen nehmen, treten andere Matrosen voller Unternehmungslust ihren Kurzurlaub an.
Filmreife Atmosphäre
In St. Gallen belässt man diese Geschichte in der Zeit der Uraufführung des Stücks. Rainer Sinell (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) haben die amerikanischen 1940erJahre ins Bild gesetzt. Kulissen, Kleider und Frisuren zaubern filmreif die Atmosphäre des damaligen New York herbei.
Straßenschluchten und Wolkenkratzer im Hintergrund, hastig über Straßen eilende Passanten und realistisch nachgebaute Interieurs von Nachtclubs, Museen und der Carnegie Hall lassen uns eintauchen in die Stadt. Ausschnitte flimmernder Schwarz-Weiß-Bilder vom Krieg erinnern bei aller unterhaltsamen Heiterkeit an den historischen Background und mischen dem ausgelassenen Treiben eine ernste Note bei. Schon zu Beginn wartet eine einsame Frau am Pier des Navy Yards. Am Ende des Stücks steht sie immer noch da und hält ihr Schildchen hoch, doch vermutlich wird ihr Verlobter von seinem Einsatz nicht mehr zurückkehren.
In diesem Ambiente entfalten Daniel Prohaska (Gabey), Boris Pfeifer (Chip), Jörn-Felix Alt (Ozzie), Julia Klotz (Ivy), Sigrid Hauser (Hildy), Bettina Mönch (Claire), Alexander Franzen (Pitkin) und Dagmar Hellberg (Dilly) ein rauschendes Fest der Stimmen und erweisen sich dabei als virtuose Grenzgänger zwischen Oper, Musical, Jazz, Blues und Soul. Ergänzend meistern sie Dialoge, Tanzeinlagen, Slapstick-Nummern und schaupielerische Comedy mit Bravour.
Michael Brandstätter erweist sich am Pult des Musical-erprobten Sinfonieorchesters der Stadt als kongenialer Interpret von Bernsteins opulentem Stilmix, der den jungen Komponisten 13 Jahre vor der „West Side Story“bereits auf der Höhe seiner souveränen Crossover-Kunst zeigt. Sinfonisch adaptierte TanzmusikIdiome von Big-Band-Eruptionen bis hin zum Drive heißer Latin-Rhythmen verbinden sich in dieser Partitur mit Swing, Soul-Elementen und nostalgischen Songs, die allerdings so überzeugend wie hier dargeboten werden müssen, um ihre Wirkung zu entfalten.