Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Wo Strafen lang schon nichts mehr nützen
Drogen sind sein Leben – und sein Leben sind die Drogen: Kann ein Richter daran noch irgendetwas ändern?
Vor Gericht und auf hoher See sei der Mensch in Gottes Hand. Diese Binsenweisheit kennen nicht nur Juristen. Was aber, wenn der Gerichtssaal selbst zu einem schwankenden Schiff wird mit hohem Seegang, sodass der verzweifelte Mensch sich immer wieder an der Tischplatte vor seiner Anklagebank festkrallt, um nicht fortgespült zu werden vom eigenen Elend? Als wäre der Tisch eine Planke, mit der er doch noch ein rettendes Ufer zu erreichen hofft?
Natürlich ist der Saal Nummer sechs im Amtsgericht Wangen nicht der Bauch eines Schiffes und der Angeklagte nicht wirklich in Seenot. In existenziellen Schwierigkeiten allerdings schon. Ist sein äußerliches Wanken und Schwanken doch der weithin sichtbare Beleg, dass auch sein Innenleben, sein Seelenhaushalt aus den Fugen geraten ist. Im Falle des 30-Jährigen sind es die Drogen, die ihn daran hindern, fest und mit beiden Beinen im Leben zu stehen oder gar irgendwo Wurzeln zu schlagen. Der bevorzugte Stoff: Heroin, obwohl der Abhängige seinem Körper nach Aktenlage so gut wie alles zugemutet hat, was den schnellen Kick verspricht.
Die Leere seines Blickes muss immer wieder neu nach dem Kopf des Richters suchen, wenn dieser das Wort an den Angeklagten richtet. „Haben Sie das Parfum aus dem Drogeriemarkt geklaut?“Der Gefragte schließt die Augen zu Schlitzen, um den Frager besser ausfindig machen zu können. Dann hält er inne, neigt den wackelnden Kopf ein bisschen und sagt mit verwaschener Stimme: „Ja, das ist richtig. Und ich stehe dazu.“Aus dem Mist, den er gebaut hat, habe er noch nie einen Hehl gemacht. „Ich mach das nicht zum Spaß“, schiebt er hinterher. „Das ist bei uns Drogenkranken so.“Und der Richter murmelt etwas von „Beschaffungskriminalität“.
Der lange Leidensweg des heute 30-Jährigen nimmt seinen Ursprung bereits irgendwann in der Schulzeit, die gekennzeichnet ist vom Wechsel. Weil der Junge es nie lange mit einer Schule ausgehalten hat. Und die Schulen nie lange mit ihm. Früh spielen Drogen die Hauptrolle in dem jungen Leben. Wie früh, weiß der Angeklagte in seinem nebelhaften Zustand nicht mehr zu sagen. Fest steht aber, dass er mit 14 Jahren zum ersten Mal vor einem Richter steht. Damals wie heute ist es Diebstahl. Immer wieder Diebstahl, der sich durch seine Vita zieht wie ein hässlicher roter Faden, dessen Schlingen eng an die Drogensucht geknüpft sind.
Es dauert fast eine Viertelstunde, bis der Richter die Suchtmittelbiografie von 2001 bis heute zu Ende erzählt hat. In dieser Geschichte kommen neben dem Diebstahl auch so hässliche Vokabeln wie „Raub“, „Sexuelle Nötigung“, „Drogenhandel“und „Beleidigung“vor. Neben dem geklauten Duftwasser sind noch ein paar andere Verfahren anhängig. Der Angeklagte hat über die Jahre längst den Überblick verloren.
Auch Gefängnisse und zwangsweise Unterbringungen haben bislang nichts bewirkt, sodass der Richter am Ende auch sagen wird: „Ich weiß gar nicht, was ich noch mit Ihnen machen soll.“
Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft liest mechanisch von ihrem Blatt herunter, dass sich die Anklage bestätigt habe, dass der Sachverhalt feststehe. Sie beantragt unter Berücksichtigung einer weiteren Tat eine Gesamtstrafe von fünf Monaten Haft. „Zur Einwirkung auf den Angeklagten halte ich eine Freiheitsstrafe für unerlässlich“, sagt die Staatsanwältin. Gerade so, als könne sie damit den Drogensüchtigen irgendwie beeindrucken, der aber auch regungslos geblieben wäre, hätte ihm irgendwer Kerkerhaft auf Alcatraz eröffnet. Und so nimmt er dann auch klag- und wortlos das Urteil zur Kenntnis, in dem der Richter die fünf Monate ohne Bewährung bestätigt. „Ehrlich gesagt, sehe ich wenig Hoffnung bei Ihnen“, sagt der Vorsitzende in seinem Schlusswort, das der Verurteilte mit wachsender Ungeduld zur Kenntnis nimmt. Mehr als bedenklich sei, dass er neben einem Drogenersatzprogramm trotzdem illegale Substanzen zu sich nehme. Doch obwohl er noch physisch anwesend ist, scheint der Verurteilte doch schon ganz weit weg zu sein, in einem fernen Nirgendwo, als er plötzlich fragt: „So, jetzt hammers aber, oder?“